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KTM: Die komplexe Suche nach den Millisekunden

Universitäten werden extra bezahlt, um Schwächen und Zeit zu finden. Dank Jack Miller ist schon ein großer Sprung gelungen. Wann KTM um den WM-Titel mitfährt.

KTM: Die komplexe Suche nach den Millisekunden Foto: © Gold & Goose / Red Bull Content Pool

Für KTM steht dieses Wochenende der wichtigste Grand Prix des MotoGP-Jahres an: Das Heimrennen am Red Bull Ring in Spielberg.

Die Ausgangsposition ist gegenüber dem Vorjahr klar verbessert. Damals befand sich das Team aus Mattighofen in einer kleinen Krise, hatte mit den Spitzenplätzen recht wenig zu tun. Auch in der Steiermark änderte sich dies nicht, Brad Binder war als Siebenter der beste KTM-Fahrer.

Heuer ist aber ein großer Schritt gelungen, bis Silverstone war KTM praktisch der einzige Konkurrent von Ducati.

In Großbritannien mischte Aprilia nach einer bisher enttäuschenden Saison wieder mit und fuhr in Form von Aleix Espargaro den erst zweiten Sieg eines Nicht-Ducati-Piloten in dieser Saison nach Alex Rins (Honda) in Austin ein.

Dafür war KTM schon zweimal im Sprint erfolgreich, in Argentinien und Jerez fuhr Binder aufs oberste Treppchen. In der Weltmeisterschaft liegt der Südafrikaner dennoch schon 83 Punkte hinter dem Führenden Francesco Bagnaia, Teamkollege Jack Miller gar 124 Zähler.

Stagnation ist verboten

KTM-Motorsportdirektor Pit Beirer spricht in einer Medienrunde mit Blick auf den Status Quo über "eine spannende Zeit, der Druck ist groß."

Die fünfwöchige Sommerpause zwischen Assen und Silverstone "gab es für die Leute im MotoGP-Projekt überhaupt nicht, weil im Endeffekt gibt so eine kleine Pause die Möglichkeit, Dinge zu tun, die du im aktuellen Rennbetrieb nicht machen kannst."

"Wir bezahlen mittlerweile Universitäten, die die TV-Bilder mit 'Milliframes per second' zerlegen."

Pit Beirer

Die Entwicklung des Bikes muss ständig voranschreiten, denn "wenn du in der Klasse stehen bleibst, wanderst du nach hinten", sagt Beirer und verweist damit auf die einstigen Übermächte Honda und Yamaha, die nun seit mehreren Jahren arg zu kämpfen haben und die Nachzügler im Feld sind.

Dasselbe Schicksal will KTM vermeiden, die im Winter eingeschlagene Richtung habe sich als "die richtige" bewahrheitet.

Beirer ist jedoch überzeugt, "dass wir noch einen weiteren Schritt brauchen, wollen und liefern werden, um etwas bestimmter bzw. relaxter zu sagen, wir fahren auf das Podest."

Universitäten helfen bei der Suche nach den Millisekunden

Was fehlt dafür noch? Der Motorsportchef holt aus: "Wir bezahlen mittlerweile Universitäten, die die TV-Bilder mit 'Milliframes per second' zerlegen. Da werden Onboard-Kameras studiert, Aufnahmen von außen, dann wird ein Leitplanken-Pfosten als Vergleich hergenommen und dann rechnen wir mit den 'milliseconds per frame', wo wir wirklich ganz genau verlieren."

"Du musst erstmal wissen, wo es fehlt, dann kannst du es lösen. Da müssen wir brutal weiterarbeiten", meint Beirer weiter. Diese kleinen Extra-Schritte müsse man gehen, denn dort sind "die Millisekunden zu finden, die wir noch brauchen", sagt der Deutsche. 

Die Arbeit mit den Universitäten wird nachhaltig angelegt, aktuell ist der heimische Rennstall "sehr bestrebt, in Österreich ähnliche Datenbanken aufzubauen."

Als Vorbild gilt natürlich Ducati, das italienische Vorzeigeteam arbeitet eng mit den Unis in Padova und Bologna zusammen. "Die haben dort fertige Rennabteilungen. Da ist im Prinzip fast jedes Ingenieurs-Berufsbild aus so einem MotoGP-Rennstall an der Uni mit abgebildet", staunt Beirer.

In Österreich wird KTM konkret mit Wien und Graz eng zusammenarbeiten und versuchen, "die Burschen und Mädels von der Uni direkt zu uns zu holen und dort Lehraufträge zu schaffen, damit 30 Studenten gleichzeitig das Rechnen anfangen, wenn wir irgendwelche Probleme haben", erklärt der Motorsportdirektor.

Leider befinde sich Österreich im Vergleich zu Italien "noch in den Kinderschuhen und auf ganz dünner Eisdecke".

"Der wollte andere Dinge, die wir vorher nicht wussten – zum Beispiel, dass man ein Motorrad so viel länger bauen kann. Alle unsere Fahrer und Techniker haben das abgelehnt."

Ein Teil der gefundenen Rundenzeit geht auf Jack Miller zurück

Im südlichen Nachbarland gebe es für jede Position einen Gegenspieler, "der mit seiner Ausbildung noch nicht fertig ist. Dort greifen sie auf relativ große Datenbanken zurück. Was wir aufbauen wollen, ist die Möglichkeit, mit den einheimischen Universitäten die Rennabteilung wirklich zu verstärken. Und wenn wir Personal brauchen, um dort auch zu rekrutieren."

Neues Konzept: Miller hat maßgeblichen Anteil am Aufschwung

Neue Ingenieure, Techniker und Analysten können schließlich immer gebraucht werden, um einen anderen Blickwinkel auf das Projekt zu erhalten.

Einen solchen brachte Jack Miller mit, der im Winter von Ducati zu KTM kam. Ein Teil der Rundenzeit, die das Team in den letzten Monaten gefunden hat, gehe eindeutig auf ihn zurück.

Beirer erzählt: "Der wollte andere Dinge, die wir vorher nicht wussten – zum Beispiel, dass man ein Motorrad so viel länger bauen kann. Alle unsere Fahrer und Techniker haben das abgelehnt, wir sind alle auf unseren gemeinsamen Moto3-, Moto2-Bikes groß geworden."

Doch Miller kam "einfach rein und hat gesagt, das Motorrad wird länger. Unsere Theorie war, länger und du kommst nicht mehr um die Ecke, aber wenn wir vorher von Millimetern geredet haben, hat Jack von Zentimetern gesprochen, was den Radstand betrifft. Dann ging das Ding plötzlich richtig um die Kurve und bei den Lastwechseln und Kraft auf das Hinterrad zu bekommen, waren die Hebeln anders und wir haben mehr Vortrieb bekommen."

Der Mann von "Down Under" sei "so wichtig" für KTM dieses Jahr und stieß ein paar verschlossene Tore auf, "weil sich die Fahrer vorher dagegen gewehrt haben. Jack hat uns besser gemacht", hält Beirer fest.

Aktuell strauchelt Miller jedoch etwas. "Er hatte paar Stürze im falschen Moment, hat die Reifen mit seiner Herangehensweise anfangs des Rennens überhitzt und Schwierigkeiten gehabt, den Speed zu halten. Momentan müssen wir schauen, dass wir seine Performance wieder auf das Level zurück bekommen, auf dem wir zu Saisonbeginn schon waren."

Gelingt dies wieder, ist Beirer völlig überzeugt, dass Miller "noch einige Male aufs Podium fahren wird."

"...dann fahren wir mit Binder um den WM-Titel"

Dasselbe trifft auf Binder zu, der sich auch in seinem vierten MotoGP-Jahr nach wie vor entwickelt. "Wie viel Freude macht uns der im Rennen?", strahlt Beirer.

"Aus aussichtslosen Situationen, trotzdem immer diesen Drang nach vorne, Richtung Podium zu haben und bis zur letzten Runde am Kämpfen. Er ist sowieso außergewöhnlich. Was er oft aus den schlechten Startpositionen innerhalb der ersten zwei, drei Runden herausholt, das verblüfft uns und die gesamte Motorsportwelt", sagt der Deutsche.

Doch an der Qualifying-Performance müsse noch gearbeitet werden, "hier ist das Bestreben, ihn stabiler hinzukriegen", betont Beirer. Der Trend zeigt aufwärts, 2023 schafft der 28-Jährige im Training zumeist direkt den Sprung in Q2. "Das war letztes Jahr mit Glück", so Beirer.



In der Hinsicht habe man einen Durchbruch geschafft. Fakt sei aber auch, "dass er in Silverstone wieder von Platz zehn losgefahren ist. Dann hat er einen Kontakt mit Jorge Martin, kommt irgendwo aus dem Nirvana und ist drei Runden später trotzdem wieder unter den Top 5. Also, der Typ ist schon irre."

Der ehemalige Motorradrenn- und Motocrossfahrer ist sich deshalb sicher: "Das eine Zehntel, das uns auf dem Bike fehlt - wenn wir das noch aus dem Brad rauskriegen, dass wir im Qualifying auch noch da sind, dann fahren wir mit ihm um den WM-Titel."

"Fantastische Fahrer", aber Ducati legt die Benchmark hoch

Über die Fahrer-Konstellation - Binder und Miller bei KTM, Pol Espargaro und Augusto Fernandez bei GasGas - zeigt sich der Deutsche überglücklich. "Ich glaube, dass wir im Moment wirklich fantastische Fahrer haben."

Im nächsten Schritt müsse man es schaffen, den Piloten "wirklich benutzerfreundliche" Bikes hinzustellen. In der Hinsicht hat Ducati nämlich eine "Benchmark für alle hoch gelegt und gezeigt, dass junge Moto2-Fahrer innerhalb eines Jahres so auf Schwung kommen, dass sie anfangen, Grand Prix zu gewinnen. Das gab es vor sechs, sieben Jahren nicht."

Damals "war so ein Werksmotorrad beim Einserteam, da gab es zwei starke Bikes – wenn du keines von diesen zwei hattest, bist du schon mal drei Plätze weiter hinten gefahren. Das Ranking war klarer."

Jetzt gebe es acht "verdammt starke" Ducatis, dann "hast du sehr gute Fahrer, junge Fahrer - die ganze Bandbreite dort."

Der größte Unterschied: "Wenn Yamaha mal einen Schritt nach vorne macht - die haben einen fantastischen Fahrer mit Fabio (Quartararo, Anm.) und der fängt an, aufs Podium zu fahren, hast du halt eine Yamaha, die besser ist. Wenn Ducati einen Schritt macht, dann sind es acht Bikes, die stärker werden."

"Wir werden angreifen und um den Sieg fahren."

Das mache es besonders schwierig für die Konkurrenz: "Wenn im Q2 nur mehr zehn Leute Platz haben, und da sind acht starke Ducatis, dann ist der Kampf unglaublich, um dort in die Ducati-Armada reinzufahren."

Anders ausgedrückt: "Wenn Brad Dritter wird, dann hat er bis zuletzt mindestens sechs Ducatis hinter sich gehabt und zwei vor sich. In Silverstone hat sich Aprilia wieder rein manövriert, die haben im Sommer wieder einen Schritt gemacht. Wenn du stehen bleibst, nur zwei, drei Monate wartest, bist du wieder weg vom Podium. Da legt Ducati die Latte relativ hoch."

Beirer zollt dem italienischen Werksteam seinen Respekt: "Die haben sich sehr gut positioniert, aber sie haben einfach ein sehr gutes Bike. Ducati hat es geschafft, ein Motorrad zu bauen, das für alle Fahrer fahrbar ist."

Das "Ducati-Land" soll orange gefärbt werden

Das wird auch in Spielberg nicht anders sein. Dort sind die Ducatis stets besonders stark, das Streckenlayout ist auf die Desmosedicis maßgeschneidert. Nicht ohne Grund wird der Red Bull Ring auch als "Ducati-Land" bezeichnet.

Unschlagbar sind Bagnaia und Co. aber nicht, 2020 (Miguel Oliveira) und 2021 (Brad Binder) wurde die Ducati-Dominanz von KTM durchbrochen. Geht es nach dem Motorsportchef, soll 2023 der nächste Heimsieg folgen.

Beirer lässt aufhorchen: "Ich kenne den Charakter der Strecke, ich kenne den Charakter des Bikes – ich denke, für Spielberg sind wir echt gut vorbereitet."

Das Heimrennen soll kein "Betriebsausflug" werden. Man freue sich natürlich, "dass die ganze Firma vor Ort ist." Aber: "Wir werden angreifen und um den Sieg fahren."

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