Der alte Mann will noch mehr. Tom Brady setzt seine NFL-Karriere mit bald 43 Jahren fort - an neuer Wirkungsstätte.
Der Wechsel des sechsfachen Super-Bowl-Champions von den New England Patriots zu den Tampa Bay Buccaneers (HIER nachlesen>>>) hinterlässt in der US-Sportwelt ein überrascht-gespanntes und gleichzeitig wehmütiges Gefühl, wie es zuletzt wohl Michael Jordans Abgang von den Chicago Bulls zu den Washington Wizards tat.
Nur "His Airness" war in ähnlichem Maße gleichzeitig das Gesicht eines Sports und einer Franchise: 20 Jahre bei den Patriots brachten sechs Super-Bowl-Titel und drei weitere Teilnahmen, eine Marke, die wohl auf ewig unerreicht bleiben wird.
Doch der Traum von Owner Robert Kraft, mit Brady einmal mehr die Vince-Lombardi-Trophy zu holen und den erfolgreichsten Quarterback aller Zeiten in einem Patriots-Jersey in die Pension gehen zu sehen, wird sich nicht erfüllen. Und das hat aus Bradys Sicht nachvollziehbare Gründe.
Welchen Anteil hatte Brady denn jetzt?
Nicht nur finanzieller Natur - Geld allein kann für einen Sportler dieser Größenordnung kein Antrieb sein, auch wenn die rund 29 Millionen US-Dollar jährlicher Verdienst bei den Buccaneers mehr als anderswo sind.
Aber Bradys Karriere haftet bis dato eine Makulatur an, die bei der Frage nach dem größten Quarterback aller Zeiten immer in die Runde geworfen wird: Die Patriots stehen nicht nur seinetwegen für Erfolg.
Mastermind Bill Belichick und die ganze Organisation verstehen es seit zwei Jahrzehnten, stets ein konkurrenzfähiges Team um Brady herum aufzubauen. Und obwohl der Quarterback fraglos die wichtigste Position im American Football bekleidet: Der ganze Kader besteht aus 53 Mann.
Ein Team, das Titel gewinnen kann, besticht immer durch multiple Stärken - ein Star-Quarterback allein ist wenig wert, wie etwa die Green Bay Packers gut wissen dürften. Aaron Rodgers gilt als womöglich talentiertester Spielmacher seiner Generation, zum Super-Bowl-Titel reichte es in rund 15 Jahren jedoch erst einmal.
Stoff für seine Kritiker
Umgekehrt untermauern zwei Indizien die Argumente aller Brady-Zweifler: Einerseits seine kurze Pause aufgrund einer Vier-Spiele-Sperre 2016, als die kaum spielerprobten Backups Jimmy Garoppolo und Jacoby Brissett das Team aus dem Stand problemlos weitertragen konnten.
Garoppolo hat sich zwar bei den San Francisco 49ers inzwischen auch zu einem Super-Bowl-Teilnehmer gemausert, ist in der Bay Area aber kein Superstar. Und Brissett gehört bei den Indianapolis Colts keineswegs zu den besseren Spielmachern der NFL - nun muss er sogar einem anderen "Oldie", Philip Rivers, Platz machen, obwohl dieser keine langfristige Lösung sein kann.
Andererseits wird die letzte Brady-Saison in dunkelblau-silber nicht positiv in Erinnerung bleiben: Mit Tight End Rob Gronkowski ging ein kongenialer Partner zuvor in den Ruhestand, auch sonst war die Qualität der Patriots eine Stufe niedriger als üblich anzusiedeln.
Erstmals seit 2010 war vor dem AFC Championship, nämlich in den Wild Cards, Endstation. Und Brady rutschte in vielen Quarterback-Statistiken ins Mittelfeld der Liga zurück.
Alterserscheinungen, Ausdruck der Abhängigkeit von New Englands Organisation, oder doch nur ein Durchhänger? An neuer Wirkungsstätte hat Brady die Gelegenheit zu beweisen, wie viel besser er ein Team alleine machen kann. Es wird die letzte große Herausforderung einer beispiellosen Karriere.
Es wird die letzte Aufgabe
Der Zeitpunkt ist logisch - und die Destination interessant.
Mit 42 Jahren ist Brady ohnehin schon ein Football-Methusalem, sein Vorhaben, bis 45 weiterzuspielen, für sich beispiellos. Aber ewig ist der körperlich zehrende Sport auch auf einer Position nicht zu bestreiten, für deren Schutz ein Großteil der Mitspieler sorgen soll.
So wird der neue Deal möglicherweise zum letzten Vertrag, den der sechsfache Champion unterschreibt. Und der letzte realistische Moment, ein neues Abenteuer anzugehen - und den ausständigen Beweis anzutreten, dass er der wichtigste Faktor der Patriots-Dynasty war.
Diesen Beweis hätte er auch bei den Patriots erbringen können. Sie hatten sich erneut um ihn bemüht - aber Brady hatte hohe Forderungen, um seinen Status untermauern zu können.
Die Bucs sind keine niedrige Hürde
Umfassendes Mitsprache-Recht bei Kader-Gestaltung und Playcalling? Viel verlangt. Nicht nur in einem Team, das auch ohne Bradys Zutun in diesen Bereichen zu den besten der NFL gehört.
Die Buccaneers, zuletzt nicht einmal mit einem Winning Record geschmückt, könnten diese Zugeständnisse gemacht haben. Und Brady findet mit Mike Evans und Chris Goodwin zwei der besten Wide-Receiver-Waffen überhaupt vor, um seine Qualitäten am Feld auszuspielen.
Ob ihnen nur das fehlte? Das wird sich weisen. Die Gefahr ist jedenfalls gegeben, dass die größte Karriere eines Footballers ähnlich unbefriedigend zu Ende geht, wie jene von Jordan in Washington.
Doch erreicht Brady sein letztes Ziel, einen Mittelständler aus dem Stand zu einem Titel-Anwärter zu machen, wird die noch nicht restlos geklärte Frage nach dem besten Quarterback aller Zeiten definitiv keine mehr sein.
Zur Not lässt sich eine Pension mit sechs Super-Bowl-Ringen an den Fingern auch genießen. Jordans Legende haben die Wizards auch nicht geschadet.