NFL-Lektion 1: Es geht alles sehr schnell.
Knappe zwei Wochen hatte Bernhard Raimann Zeit, gedanklich am ersten Ziel angekommen zu sein. Die Chance in der größten Football-Liga der Welt tatsächlich zu bekommen.
Schon jetzt heißt es, die alte Heimat Michigan hinter sich zu lassen. Die Indianapolis Colts rufen. Und bitten schon am kommenden Wochenende zum ersten Mini-Camp für die Rookies. Nur der erste von vielen Programmpunkten.
Die Reise beginnt jetzt so richtig.
Fast genau vier Monate sind es zum Start der Regular Season, in denen sich der Burgenland-Wiener dem Kampf um den Stammplatz in der Offensive Line stellt. Wohl als Left Tackle, jener Position, auf welcher der 24-Jährige zuletzt immer agierte und die Colts nach dem Abgang von Eric Fisher frischen Bedarf haben.
"Ich werde mich jeden Tag vorbereiten, als wäre ich schon der Starter. Ich werde jeden Tag mein Bestes geben. Ich weiß, dass ich das Potenzial und das Können habe. Jetzt geht es darum, den Coaches zu zeigen, dass ich es kann", strotzt Raimann vor dem Auftakt schon vor dem nötigen Selbstvertrauen.
Die "blöden Gedanken" hielten Einzug
Das auch durch den nicht ganz wie erwartet verlaufenen Draft nicht gelitten hat. Als später Erstrunden-Pick eingeschätzt, rutschte Raimann bis in die dritte Runde auf Position 77 zurück, ehe Indianapolis zuschlug.
"Es gab wohl noch nie einen Spieler, der komplett durch diesen Check gekommen ist. Das kann man als Spieler nur hinnehmen und diesen Teams über die nächsten Jahre zeigen, was sie alles verpasst haben."
"Natürlich hat man dann blöde Gedanken. 'Oh Mist, ich werde gar nicht gedraftet, es ist etwas passiert und ich muss einen anderen Weg finden...'. Ich musste auch ein paar Mal zur Tür rausgehen und frische Luft schnappen, versuchen, mein Mindset zu resetten. Es ist eine extrem stressige Situation", ging die lange Wartezeit nicht spurlos vorüber.
"Ich habe so gut es geht versucht, mich zu erinnern: Der Draft ist nur ein Anfang. Egal, wohin es geht und wie spät im Draft, es ist nur der Startpunkt. Er ist nicht das Ziel - sondern eine lange NFL-Karriere. Ich wusste, ich brauche nur eine Chance. Das hat funktioniert. Wenn der Anruf dann kommt, fällt dir ein riesiger Stein vom Herzen."
Echtes Wehwehchen oder Kalkül der Teams?
Unmittelbar vor dem Draft tauchten Berichte auf, wonach Raimann bei einigen Teams durch die medizinischen Checks gerasselt sein dürfte. Das schadete seinem Draft-Wert und war wohl ein Mitgrund für den späteren Pick.
Über diese Einschätzungen wusste Raimann schon vor dem Draft Bescheid.
"Das Ganze ist ein Geschäft. Jedes Team will die besten Spieler so günstig wie möglich bekommen. Darum versuchen sie, so viele schlechte Dinge wie möglich zu finden. Sie schauen jeden Knochen und Knorpel an, und in jedem Körper findest sich etwas, was nicht hundertprozentig passt. Und einige Teams finden Dinge, die für andere noch akzeptabel sind", zuckt Raimann nachträglich mit den Schultern.
"Es gab wohl noch nie einen Spieler, der komplett durch diesen Check gekommen ist. Das kann man als Spieler nur hinnehmen und diesen Teams über die nächsten Jahre zeigen, was sie alles verpasst haben."
Athletik als Schlüssel
Dass es letztlich die Colts wurden, konnte Raimann nicht vorhersehen. Ein Bauchgefühl gab es jedoch. Die "Fohlen" zeigten vor dem Draft schon gesteigertes Interesse an ihm.
"Sie waren weit oben auf der Liste, weil ich gute Meetings hatte. Es war auch ein großer Unterschied, wie oft ich mich mit ihnen getroffen habe - alle paar Wochen. Dadurch habe ich schon gute Beziehungen aufbauen können. Es ist ein super Team für mich als Mensch und Football-Spieler, sie haben schon eine gute Mannschaft, eine tolle Stadt und die Unterstützung der Fans."
Und sportlich dürfte ein "Fit" durchaus gegeben sein. So die Einschätzung nach den ersten Unterhaltungen.
"Schematisch sind einige Plays sehr ähnlich zu denen, die wir in Central Michigan gespielt haben. Ein großer Unterschied ist, wie komplex die Spielzüge aufgebaut sind. Es gibt am NFL-Level viel mehr Playcalls und Anpassungen, auch von der Offensive Line selbst, nicht nur vom Quarterback. Es gibt Calls für verschiedene Dinge, die am College alle das Gleiche bedeuten. Die Aufgabenverteilung ist viel genauer und man muss sich sehr viel mehr merken", lautet die erste Einschätzung.
"Aber die Schemen passen gut in mein Skillset. Ich bin ein relativ athletischer Lineman."
Diese Athletik sei es auch gewesen, die die Colts an Raimann so beeindruckte. "Sie sehen viel Potenzial. Allerdings denken sie, dass sie noch viel an meiner Technik arbeiten müssen", kennt er seine eigenen Upsides.
Super Bowl - schon im ersten Jahr?
Sogar den ganz großen Wurf in der ersten Saison hält Raimann nicht für ganz ausgeschlossen.
Die Colts verpassten vergangene Saison auf peinliche Art und Weise die Playoffs: Mit einem Umfaller gegen das schlechteste NFL-Team, die Jacksonville Jaguars, am letzten Spieltag.
Allerdings hat sich seither auch etwas getan, wurde mit Matt Ryan ein routinierter Quarterback von den Atlanta Falcons losgeeist, der in der Spätphase seiner Karriere noch etwas zu beweisen hat.
"Wir haben auf jeden Fall Chancen, in die Playoffs zu kommen, und sind auch ein Super-Bowl-Contender. Wir haben das Potenzial, den ganzen Weg zu gehen, um nächsten Februar in Arizona zu spielen", glaubt der Österreicher an die Chance.
Ein Line-Kollege überstrahlt Ryan und Taylor
Dass mit Ryan und Star-Running-Back Jonathan Taylor zwei Könner auf den wichtigsten Offensiv-Positionen werken und ihre Linesmen entsprechend einweisen können, ist ein Start-Bonus für Raimann.
"Um das Geld ging es mir nie. Ich hatte eine gute Kindheit und nie den Stress, dass ich meine Eltern von der Straße holen musste."
Der sich aber mehr über einen anderen Neo-Kollegen freut: Quenton Nelson, der als einer der besten Guards der NFL gilt - womöglich aller Zeiten.
"Von ihm lernen zu können, wie er tagtäglich an die Sache herangeht, seine Arbeit macht und was ihn so speziell macht, ist eine große Chance für uns Rookies. Ich glaube, auf jeder Position haben die Colts sehr gute Veteranen", ist die geballte Erfahrung, die sich Raimann zunutze machen kann, ein Vorteil.
Das Geld spielt keine Rolle
Bevor dieses Umfeld Wirkung zeigt, muss sich Raimann aber erst an die große Bühne gewöhnen. Und sich eine Wohnung suchen - eine der ersten Aufgaben, die mit dem neuen Gehalt bewältigt gehören.
Dass das Einstiegs-Salär geringer ausfällt, als es beim prophezeiten Erstrunden-Pick der Fall gewesen wäre, stört den 24-Jährigen übrigens nicht.
"Um das Geld ging es mir nie. Ich hatte eine gute Kindheit und nie den Stress, dass ich meine Eltern von der Straße holen musste. Sie haben mir immer klar gemacht: Was immer passiert, ich solle es aus der Leidenschaft zum Sport machen, nicht für das Geld. Sie würden mir aushelfen, was immer passieren würde. Das hat mir auch immer viel Kraft gegeben."
Jetzt ist ihr Bernhard an einem Punkt angekommen, an dem finanzielle Hilfe nicht mehr nötig sein wird. Über einen weiteren Besuch, dann in Indianapolis, würde er sich sicher freuen.
Und mit seinen Eltern und ihm jede Menge österreichischer Football-Fans, die sich in Kürze mit Trikots einkleiden können. Mit dem ersten Camp wird auch Raimanns Trikotnummer feststehen.
Möge sie schon am ersten Spieltag oft am Feld zu sehen sein.