Autor dieses Texts ist Philipp Pölzl, der Österreich 2012 zum WM-Titel im Flagfootball geführt hat. So schätzt er die Kräfteverhältnisse vor der am Freitag beginnenden EM ein:
Am Freitag beginnt die Flagfootball Europameisterschaft 2023 in Limerick, Irland. Zeit für ein hoffentlich nicht ganz falsches Power Ranking.
Die Gruppeneinteilung steht endlich fest (vielleicht stand sie auch schon länger fest, kommuniziert wurde sie jedenfalls nicht früher) und auch der Modus ist fixiert. Ein Rekordteilnehmerfeld (13 Damenteams und 20 Herrenteams) wird von 18. bis 20. August erstmals seit 2019 wieder die Europameistertitel ausspielen.
Zusätzlich geht es auch um die Qualifikation für die Weltmeisterschaft im kommenden Jahr in Finnland.
DIE KRÄFTEVERHÄLTNISSE BEI DEN DAMEN:
Bei den Damen versucht der Überraschungseuropameister von 2019, Spanien, seinen Titel zu verteidigen. Der Triumph der Spanierinnen war das bisher einzige Mal, dass sie sich bei internationalen Turnieren in den Top 4 platzieren konnten. Man wird sehen, ob es eine Eintagsfliege bleibt oder ob sie auch heuer ein kompetitives Team an den Start bringen werden.
Zum erweiterten Favoritenkreis zählen auch Frankreich, Italien und vor allem Großbritannien, die laut eigenen Aussagen noch nie mit so hohen Erwartungen in ein Turnier gegangen sind.
Allen voran steht aber die dominante Nation der letzten 15 Jahre im europäischen Damen-Flagfootball: Österreich.
Die Defense der Österreicherinnen ist ziemlich unverändert zu den World Games 2022 und sollte gut harmonieren. In der Offense sieht das anders aus. Vier langjährige Leistungsträgerinnen werden heuer nicht mehr dabei sein, allen voran der beste weibliche Quarterback Europas der letzten 10 Jahre: Saskia Stribrny.
An ihrer Stelle wird erstmals bei einem internationalen Turnier Daniela Schelch die Schlüsselposition in der Offense übernehmen. Der Rest der Offense ist mit teils arrivierten Spielerinnen, aber auch zwei 18-jährigen Neulingen besetzt. Die Saison begann für die neu zusammengestellte Offense sowohl in den Trainings als auch bei der King Bowl in Utrecht etwas holprig. Mittlerweile sind laut Head Coach Walter Demel aber deutliche Verbesserungen erkennbar, gerade seit dem Trainingscamp Anfang Juli geht es von Training zu Training bergauf.
Meiner Meinung nach ist der Damen-Bewerb bei den Europameisterschaften so offen wie schon lange nicht mehr. Mehrere Nationen haben die Chance, den Titel zu holen. Für Österreich kommt es darauf an, ob die neu gestaltete Offense und allen voran Daniela Schelch ihre Leistung bringen können. Mein Tipp ist, dass sie es schaffen und Österreich sich den 2019 verlorenen Europameistertitel zurückholen und somit an die vergangenen Leistungen anschließen kann.
DIE KRÄFTEVERHÄLTNISSE BEI DEN HERREN:
Die Europameisterschaft der Herren kann heuer mit einem Überraschungsgast aufwarten: Kamerun! Kamerun? Die IFAF hat sich entschieden, afrikanische Teams zum Turnier in Limerick einzuladen, um ihnen die Möglichkeit für Spielpraxis als Vorbereitung für die Weltmeisterschaft 2024 in Finnland zu geben. Die Idee ist gut, die Kommunikation im Vorfeld war zum wiederholten Male eher mäßig. Wünschenswert ist jedenfalls, dass dies einen ersten Schritt für zukünftige African Continental Championships darstellt, die vielleicht schon in zwei Jahren erstmals über die Bühne gehen könnten.
Nun aber zu meinem Power Ranking der Herren. Die 20 Mannschaften sind in 4 Gruppen zu je 5 Nationen aufgeteilt. Die beiden Erstplatzierten jeder Gruppe qualifizieren sich für das Viertelfinale.
Aus in der Vorrunde: Finnland, Irland, Ukraine, Niederlande, Slowakei, Spanien, Belgien, Kamerun, Georgien, Tschechien, Polen, Schweden
Keine großen Überraschungen. Ich glaube nicht, dass eines der oben genannten Teams die erfahrenen Mannschaften entscheidend fordern wird können.
Viertelfinale: Italien (A1) gegen Deutschland (D2)
Der dritte Platz bei den Europameisterschaften 2015 ist das einzige herzeigbare Resultat des deutschen Teams in den letzten 10 Jahren. Nichtsdestotrotz sprechen zwei Fakten dafür, dass es heuer besser laufen könnte. Erstens war während der World Games in den Vorrundenspielen mit starken Leistungen gegen die späteren Halbfinalisten Mexiko, Österreich und Italien ein deutlicher Aufwärtstrend erkennbar, der leider durch Covid-Erkrankungen innerhalb des Teams gestoppt wurde. Und zweitens herrscht seit vielen Jahren Kontinuität auf der QB-Position, wo mit Benjamin Klever ein sehr erfahrener Spieler das Steuer fest in der Hand hält.
Das Gegenteil davon ist beim prognostizierten Viertelfinalgegner Italien der Fall. Die regierenden Vizeweltmeister und Zweitplatzierten der World Games 2022 zahlen heuer den Preis für die Zusammenstellung des Teams in den letzten Jahren. Zumindest die Hälfte der Mannschaft aus 2022, allen voran QB Luke Zahradka, steht heuer aufgrund von Einsätzen in der European League of Football (ELF) nicht für das Flagfootball-Nationalteam zur Verfügung. Dies wirft natürlich die Frage auf, ob der österreichische/dänische Weg mit fast ausschließlich Vollzeit-Flagfootball-Spielern oder der italienische Weg mit vielen sehr guten Tackle Spielern der richtige ist. Aus italienischen Kreisen habe ich zumindest gehört, dass die aktuelle Mannschaft die schwächste seit vielen Jahren sei.
Mein Tipp: Sieg Deutschland
Viertelfinale: Österreich (C1) gegen Großbritannien (B2)
Laut Insidern reisen die beiden Mannschaften aus Großbritannien mit großem Selbstvertrauen und der bisher höchsten Erwartungshaltung bei einem internationalen Turnier an. Das Erreichen des Viertelfinales stellt somit ein Minimalziel dar, das sie auch erreichen werden. Gegen die österreichische Mannschaft wird es dennoch nicht reichen, zu groß ist (noch) der Klasseunterschied zwischen den beiden Nationen.
Mein Tipp: Sieg Österreich
Viertelfinale: Frankreich (B1) gegen Israel (C2)
Israel scheint seit vielen Jahren im guten Mittelfeld festgefahren. Seit 2013 standen sie bei Europameisterschaften immer im Halbfinale, ein Finaleinzug war ihnen nur einmal, bei den „geteilten“ Euromeisterschaften 2017 (mehr dazu später), vergönnt. Frankreich hingegen befindet sich im Aufwind. Nachdem es aus unerklärlichen Gründen zwischen 2015 und 2019 kein Nationalteam gab, war die Entwicklung der letzten Jahre positiv. Der Sport erlebte generell ein Wachstum, die Ergebnisse waren gut, entsprachen aber noch nicht ganz der eigenen Erwartungshaltung. Ich erwarte ein spannendes Viertelfinalduell.
Mein Tipp: Sieg Frankreich
Viertelfinale: Dänemark (D1) gegen Schweiz (A2)
Die Schweizer sind definitiv am Vormarsch, eine Tatsache, die ich bei der heurigen Peace Bowl am eigenen Leib erfahren durfte. In den letzten Jahren ist es ihnen gelungen, sich im guten Mittelfeld zu etablieren. Für die Top-Nationen reicht es noch nicht ganz, aber die Qualifikation fürs Viertelfinale und damit ein (vermeintliches) Ticket für die Weltmeisterschaft ist ihnen meiner Meinung nach sicher. Das ist auch das Ziel, das sie sich selbst gesetzt haben. Die Entwicklung des Sports schreitet bei den Eidgenossen rasant voran, mit ihnen wird in den nächsten Jahren sicher beim Kampf um die Medaillen zu rechnen zu sein. Heuer sind die Dänen noch zu stark.
Mein Tipp: Sieg Dänemark
Halbfinale: Deutschland gegen Österreich
Österreich gegen Deutschland in einem EM-Halbfinale. Was kann man sich mehr wünschen? In diesen beiden Teams wird Kontinuität ganz großgeschrieben. Vergleicht man die beiden Roster der World Games 2022 mit den aktuellen, gibt es kaum Veränderungen. Vor allem die QB-Position ist seit Jahren in den gleichen Händen. Das vom deutschen Verband vorgegebene Ziel, das Erreichen des Halbfinals, ist in meinem Szenario erreicht. Gelingt es den Deutschen darüber hinaus erstmals seit 2010 den kleinen Nachbarn aus Österreich zu schlagen? Es wird trotz eines spannenden Spiels nicht ganz reichen.
Mein Tipp: Sieg Österreich
Halbfinale: Frankreich gegen Dänemark
Der Europameister der Jahre 2005 und 2007 (Frankreich) gegen den Europameister von 2009, 2011, 2013, 2015, 2017 und 2019 (Dänemark). Unfassbare sechs Titel in Folge konnten die Dänen erringen. Die beiden Teams scheinen am Scheideweg zu stehen. In Dänemark geht es seit mehreren Jahren im Breitensportbereich steil bergab, auch das Nationalteam konnte bei der Weltmeisterschaft 2021 und den World Games 2022 nicht an frühere Erfolge anschließen. Dem gegenüber steht Frankreich, das sich endlich wieder nach einem großen Erfolg sehnt und in den vergangenen Jahren wieder zur erweiterten Spitze aufschließen konnte. Mein Tipp ist, dass sich noch ein letztes Mal die Erfahrung der Dänen durchsetzen wird.
Mein Tipp: Sieg Dänemark
Spiel um Platz 3: Deutschland gegen Frankreich
Ich erwarte ein Duell auf Augenhöhe, bei dem die deutsche Mannschaft wie im Jahr 2015 die Bronzemedaille erobert.
Mein Tipp: Sieg Deutschland
Finale: Österreich gegen Dänemark
Zweimal lautete das Finale einer Europameisterschaft bereits Dänemark gegen Österreich. Der Gesamtscore in diesen beiden Spielen: Dänemark 112, Österreich 29!!! In einem davon hatte ich selbst meine Hände im Spiel. So klar wird das Ergebnis heuer sicher nicht sein. Für Dänemark spricht die Erfahrung, allerdings gehen sie mit einem neuen Quarterback an den Start. Statt Frederik Lochte Ermler wird diesmal voraussichtlich sein Vereinskollege von den Allerod Armadillos, Niklas Dyrby Johansen, die QB1-Rolle übernehmen. Keine leichte Situation für Niklas, der allerdings schon länger eine fixe Größe im Nationalteam ist. Nur eben nicht auf der Position des QB. Dänemark gegen Österreich ist auch das Duell der beiden Europameister von 2017. Der beiden Europameister?
Ja, im Jahr 2017 gab es einen Streit zwischen der EFAF und der IFAF Europe, wer die offiziellen Europameisterschaften ausrichten darf. Als Ergebnis gab es zwei Europameisterschaften, eine gewann Dänemark, die andere Österreich. Abgesehen vom Jahr 2017 und den beiden Finalklatschen 2011 und 2015 konnten die Österreicher bei Europameisterschaften nicht um den Titel mitspielen. 2019 war sogar schon im Viertelfinale Endstation.
Auftrieb gaben die World Games, wo man im Spiel um Platz 3 nur knapp an Mexiko scheiterte. Das Team der Österreicher ist fast ident mit dem Team vom letzten Jahr. Die Defense ist zwar wieder um ein Jahr älter geworden, manche Leistungsträger sind schon jenseits der 30, die Kontinuität der gesamten Mannschaft sollte aber über diesem kleinen Manko stehen. In einem in Summe sehr offenen Turnier mit keinem klaren Favoriten sehe ich dennoch eine Mannschaft, die eine Spur über allen anderen steht.
Mein Tipp: Sieg Österreich