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Wilczynski: "Die Mannschaft hat die Grenzen verschoben"

Der Ex-Teamspieler und ORF-Experte erklärt das Handball-Märchen des Nationalteams, welchen Push der Sport daraus bekommen kann - und wie das möglich sein wird.

Wilczynski: Foto: © GEPA

Österreich ist auf einmal eine Handball-Nation.

Die EHF EURO 2024 markiert den Höhepunkt einer Entwicklung, die vor rund 20 Jahren begann. Damals war Konrad "Conny" Wilczynski eine der Leitfiguren im ÖHB-Nationalteam.

Nun bildet der bald 42-Jährige zusammen mit Giovanni Hahn das dynamische ORF-Duo, welches das sportliche Märchen durchgehend kommentieren durfte.

Aber nicht nur den Höhepunkt des österreichischen Handballs begleitet Wilczynski so aus nächster Nähe, auch in einem Lowlight war er als Westwien-Geschäftsführer in jüngerer Vergangenheit direkt involviert: Dem vorläufigen Ende Westwiens, das als amtierender Meister mangels eigener Halle aus der HLA ausscheiden musste und die Probleme der nun - hoffentlich nicht nur kurzzeitig - boomenden Sportart in Österreich dadurch herb aufzeigte.

Im LAOLA1-Interview spricht der Torschützenkönig der deutschen Bundesliga 2007/08 über die Faktoren, die das Handball-Wunder möglich machten - und darüber, wie der Erfolg der Sportart einen Push geben muss.

Handball-EM: Österreich-Island am Mittwoch ab 15:30 Uhr im LIVE-Ticker>>>

LAOLA1: Du hast schon zahlreiche Großereignisse als Aktiver und als Beobachter miterlebt. Warum ist Österreich gerade bei diesem Turnier der Knoten so aufgegangen?

Conny Wilczynski: Einerseits, weil das Team funktioniert und über die letzten Jahre extrem gewachsen ist. Zum anderen, weil die Spieler in einem perfekten Handballeralter und die Leistungsträger alle in guten Vereinen sind. Und natürlich, weil der Stern von Constantin Möstl aufgegangen ist. Du brauchst eine Top-Leistung auf der Torhüter-Position, das hatten wir die letzten Jahre nicht immer. Wir haben bei den letzten Großereignissen auch immer die Deckung kritisiert, aber da einen riesigen Schritt nach vorne gemacht. Die habe ich schon jahrelang nicht mehr auf diesem Niveau gesehen. Auch im Zentrum sind wir mittlerweile international top aufgestellt.

LAOLA1: Wo lagen da die konkreten Entwicklungsschritte?

Wilczynski: Die Spieler sind gereift. In dieser Menge hatten wir die Top-Spieler vorher nicht. Das Angriffsspiel war jahrelang nur auf Mykola Bilyk ausgelegt. Jetzt haben wir mit Lukas Hutecek einen zweiten Leader im Angriff. Auch Boris Zivkovic hat sich gut entwickelt. Janko Bozovic spielt auf gutem Niveau. Die Außenspieler sind sowieso Weltklasse. Tobi Wagner ist mittlerweile ein international guter Kreisläufer. Und eben Constantin Möstl. Wir haben einfach keine Schwachstellen mehr in diesem Team. Und dann noch das Kollektiv, was die Rollenverteilung, Spirit, Kultur betrifft. Für mich ist das ein perfektes Lehrbeispiel, was passiert, wenn ein Team in allen Bereichen funktioniert. Und das ist ehrlich, authentisch und echt.

LAOLA1: Warum haben sich gerade die Top-Teams mit Österreich so schwergetan? Ein einziges gutes Spiel kann ja mal "passieren".

"2020 hat uns Corona mit den Lockdowns den Strich durch die Rechnung gemacht. Viele Türen haben sich geöffnet, zwei Monate später war Stille im Land. Wir müssen jetzt konkrete Schritte setzen."

Wilczynski: Ich glaube, dass die Mannschaft die sportlichen Grenzen tatsächlich verschoben hat. Das waren keine Überraschungen. Weil die Qualität mittlerweile da ist. Es war überraschend, dass wir diesen Schritt in so kurzer Zeit geschafft haben und auch halten können. Für mich ist das jetzt der größte Erfolg für den österreichischen Handball in der Geschichte. Es ist nicht mit einer Heim-EM vergleichbar, weder 2010 noch 2020. Kroatien, Spanien, Deutschland - die Gegner sagen alles. Gegen die absoluten Top-Nationen waren es nicht nur Überraschungen, diese Leistungen wurden bestätigt. Anscheinend ist es so, dass man jetzt einen Riesen-Schritt gemacht hat. Und deshalb auch zur erweiterten Weltspitze zählt.

LAOLA1: Was hat sich im Vergleich zu deiner aktiven Zeit im Team geändert, sportlich wie zwischenmenschlich?

Wilczynski: Ich glaube, vom Spirit und von der Hierarchie und Rollenverteilung in der Mannschaft her ist es ähnlich, da gibt es viele Vergleiche. Wir waren damals schon ein bisschen älter als die jetzige Mannschaft.

LAOLA1: Das perfekte Handballer-Alter der Leistungsträger macht für die unmittelbare Zukunft Hoffnung. Was kommt danach? Hast du das Gefühl, dass genug nachkommt, um diesen Erfolg nachhaltig konservieren zu können?

Wilczynski: Ja, es kommen genug Spieler nach. Wir müssen einen Schritt machen, was die methodische Entwicklung und Einbindung in die Mannschaft betrifft. Da sind wir noch zu abhängig von den Grund-Sieben-Spielern. Wir müssen jetzt schon überlegen, was in zwei, drei, vier Jahren passiert. Da haben wir schon noch Potenzial nach oben.

LAOLA1: Im Turnierverlauf wurde viel über die körperliche Belastung gesprochen. Was geht im Körper eines Handballers vor, wenn über zwei Wochen jeden zweiten Tag ein Spiel bestritten wird?

Wilczynski: Das ist mit dem Alltag nicht vergleichbar, weil man einfach keine Zeit zum Trainieren und Regenerieren hat. Wenn du nicht fit in so ein Turnier startest, kannst du diese Belastung auch nicht stemmen. Und natürlich ist es auch ein Verdienst der Physioabteilung. Denn wir hatten viele angeschlagene Spieler mit kleinen Blessuren. Also denen gebührt es auch ein großes Lob. Aber die körperliche Belastung ist das eine, dazu kommt die mentale. Gerade nach den Erfolgen gegen Kroatien und Spanien ist es ja oft so, dass einfach eine Last abfällt und diese Spannung nicht mehr aufgebaut werden kann. Da waren sie auch auf einem Topniveau, eben nicht locker gelassen haben, sofort im ersten Spiel gegen Ungarn auch mental da waren. Auch das ist ein Riesenschritt, den nicht alle Sportler schaffen.

LAOLA1: Was muss auch der Spieler selbst an seinen Routinen ändern?

Wilczynski: Man muss die Regenerationszeiten gut nutzen. Essen, Schlafen, Physiotherapie. Auf der anderen Seite muss man auch einfach von diesem Flow leben, von der Lockerheit und den Spaß haben. Das kann sehr viel kompensieren. Das merkt man auch. Die Spieler haben teilweise echt wenig geschlafen, trotzdem waren sie topfit.

LAOLA1: Wie betrachtest du die Ausgangslage gegen Island? Grundsätzlich ist Österreich einmal mehr Außenseiter. Können die zur späten Spaßbremse werden?

Das sind unsere Handball-Heroes bei der EURO 2024

Wilczynski: Die Gefahr besteht natürlich, aber ich würde gerne dagegen ankämpfen. Die Mannschaft hat gezeigt, dass Realismus im Sport nicht immer was verloren hat. Wir waren vor fast jedem Spiel in dieser Situation. Die Spielweise der Isländer liegt uns nicht. Die spielen extrem schnell, dynamisch, taktisch und technisch sehr, sehr guten Handball. Aber wenn es die Mannschaft gegen andere Top-Nationen geschafft hat, dann kann sie das gegen Island auch schaffen. Und es wäre ein großer Fehler, wenn man die gesamte Leistung zu sehr auf dem Ergebnis des letzten Spiels aufhängen würde. Für mich ist das jetzt schon der größte Erfolg in der österreichischen Handballgeschichte. Und ich wünsche den Jungs, dass sie das bis zum Schluss durchziehen können. Wenn nicht, ändert es aber nichts an meiner Meinung.

LAOLA1: Sollte der Fall einer Niederlage eintreten, wären mittlerweile aufkeimende Hoffnungen enttäuscht. Wie bliebe die Euphorie in der Öffentlichkeit trotzdem erhalten?

Wilczynski: Die Gefahr ist da und kann nicht weggeredet werden, wenn du am Ende nur Achter oder Neunter wirst. Aber dagegen muss angekämpft werden. Das Ergebnis ist nur eine Sache. Die Mannschaft hat Herzen erobert. Wir hatten früher Erfolge, die wir in der Öffentlichkeit erklären mussten. Diesmal nicht, weil es die Leute selbst miterlebt und gespürt haben. Man muss die Kirche im Dorf lassen, mit welchen Möglichkeiten das geschafft wurde. Wir haben 20.000 Handballer - Deutschland 800.000. Wir sollten kritisch bleiben, das ist leichter, wenn die Dinge gut laufen. Wir müssen Schritte machen, um die Grenzen nach oben verschieben zu können. Die Mannschaft hat das in neue Dimensionen gebracht, das müssen wir jetzt nutzen.

LAOLA1: Diese Dimensionen wurden schon 2010 und 2020 mit den Heim-EMs erhofft. Warum ist das damals ausgeblieben?

Wilczynski: 2010 waren wir nicht genug vorbereitet. Und 2020 hat uns Corona mit den Lockdowns den Strich durch die Rechnung gemacht. Viele Türen haben sich geöffnet, zwei Monate später war Stille im Land. Wir müssen jetzt konkrete Schritte setzen, das fängt bei uns allen an, die im Handball arbeiten. Das geht aber natürlich über die Wirtschaft, Politik und Medien. Es wird alle brauchen.

LAOLA1: Große Erfolge hatten auch schon andere Randsportarten, ohne danach zu explodieren. Wo liegt in Österreich der limitierende Faktor?

"Handball kann sich neben Skifahren als Nummer zwei etablieren. Dazu hätten wir die Potenziale, aber sind noch weit weg davon. Wir müssen in größeren Dimensionen als bisher denken."

Wilczynski: Einer der großen Faktoren ist die fehlende Breite. Der Handball ist auf allen Ebenen noch zu klein. Unsere erste Aufgabe der nächsten Jahre muss sein, die Zahl der Aktiven zu verdoppeln. Dann hast du automatisch mehr Zuschauer und mehr wirtschaftliche Möglichkeiten. Der zweite limitierende Faktor ist klar: Unsere Hallensituation. Da müssen wir es endlich schaffen, die auf ein internationales Niveau zu heben. Du kannst die Breite nicht vergrößern, wenn du die Trainingsmöglichkeiten nicht hast.

LAOLA1: Für das Thema bist du nicht der schlechteste Gesprächspartner. Was hast du da im letzten Jahr in der Zusammenarbeit mit der Politik und Zuständigen gelernt, wo liegen die Schwierigkeiten?

Wilczynski: Das Bewusstsein ist noch nicht da, was dahintersteckt. Ich würde es als Investment sehen. Nicht, eine Halle mit gutem Marketing zu bauen. Wir brauchen flächendeckend zwischen 30 bis 50 Trainingshallen. Mancher wird sagen, das ist nicht finanzierbar. Ich sage: Doch. Weil das wieder zurückkommt. Mit Umweg-Rentabilitäten und anderen Faktoren, die in die Wertschöpfungskette Sport einzahlen. Wenn wir einen Schritt in die Richtung schaffen, kann man irgendwann in Richtung der Dimensionen von Fußball und Skifahren denken. Unmöglich ist es nicht, wir müssen uns nur drüber trauen. Mit 10, 20 Millionen Euro kann man schon große Schritte setzen, das Geld kommt mehrfach wieder ins System zurück. Es wäre ein Investment.

LAOLA1: Hätte das Drama um Westwien mit einem solchen sportlichen Erfolg des Nationalteams im Rücken einen anderen Ausgang genommen?

Wilczynski: Das kann sein. Aber ich trauere nicht nach. Das war ein Warnschuss. Vielleicht hilft er, um aufzuzeigen, was negativ passieren kann. Aber auch, was man jetzt draus machen kann. Es wäre ein riesiger Verlust für den österreichischen Sport, wenn wir aus diesem Erfolg nichts machen. Denn wenn wir gewisse Dinge nicht proaktiv angehen, könnte Westwien nicht das letzte Beispiel bleiben. Ich denke auch, dass viele die Dimensionen unterschätzt haben und nicht dachten, dass es wirklich dem Ende zugeht. Aber wenn es notwendig war, so ein Opfer zu bringen, dann soll es auch mal so sein.

LAOLA1: Wenn die Breite vergrößert werden soll, muss der Nachwuchs angesprochen werden. Welche Argumente hat der Handball in der Hand?

Wilczynski: Viele Vereine sind sehr aktiv und haben weniger das Problem, zu wenige Kinder zu haben. Die zu begeistern, ist nicht das Problem. Wir haben nicht die Rahmenbedingungen, das Problem der Trainingshallen und der fehlenden Trainer, weil das Job-Profil in Österreich nicht so gegeben ist. Und das Problem der Finanzierung. Wir haben nicht das Problem, die Kinder zu aktivieren. Wir können sie nicht betreuen.

LAOLA1: Dass die Begeisterungsfähigkeit in der Öffentlichkeit da ist, ist nun bewiesen. Wo hat der Handball in Österreich seinen Plafond?

Wilczynski: Fußball ist Fußball, auf der ganzen Welt. Da würde ich nie in Konkurrenz gehen. Ich freue mich, dass der Fußball so groß ist und wir wollen hier und da auch was davon lernen. Aber Handball kann sich neben Skifahren als Nummer zwei etablieren. Dazu hätten wir die Potenziale, aber sind noch weit weg davon. Wir müssen in größeren Dimensionen als bisher denken.

LAOLA1: Da könnten auch die Frauen ihren Beitrag leisten, deren Heim-EM nun vor der Tür steht.

Wilczynski: Eine riesige Chance und eigentlich perfekt vom Timing, dass wir nach diesem Märchen gleich die Frauen-EM da haben. Die spielen eine riesige Rolle, können auch begeistern, haben auch eine super Mannschaft. Ich traue den Mädels ähnliches zu. Und es ist leichter, ein Thema hochzuhalten, wenn du ein Highlight nach dem anderen hast. 2024 kann ein entscheidendes Jahr sein, ob wir manchen Schritt schaffen oder im Kleinen bleiben.

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