Für Österreich ist die Handball-Europameisterschaft 2022 in der Slowakei und Ungarn das bereits neunte Großereignis seit 2010.
Während die Teilnahme selbst damit fast schon zur Gewohnheit geworden ist, war bei den Ergebnissen bislang immer ein Auf und Ab zu beobachten.
Auf Rang acht bei der Heim-EM 2020, der bislang besten Platzierung überhaupt, folgte mit Rang 26 bei der WM 2021 wieder ein Nackenschlag - auch bedingt durch Corona- und Verletzungs-Ausfälle. Dazu kam bei den jüngeren Gruppenauslosungen teilweise Los-Pech dazu, stand das ÖHB-Team etwa gleich zweimal in einer Gruppe mit Frankreich und Norwegen.
Bei der EURO 2022 sind die Voraussetzungen nun so gut wie lange nicht - aber die Aufgabe eine gefährliche. Mit dem Ziel, das gute Ergebnis der Heim-EM zu bestätigen, kann das Turnier zum bisher größten Erfolg werden. Oder zur Enttäuschung. Grauzone gibt es fast keine - und der eigene Anspruch muss diesmal bestätigt werden.
Drei Gründe, warum die EM der bisher größte Prüfstein für das ÖHB-Team wird:
1. Der Kader ist komplett
Was bei der WM 2021 noch zum großen Stolperstein wurde, ist nun kein Thema mehr: Verletzungs- und zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch corona-bedingte Ausfälle.
Mit Nikola Bilyk, Fabian Posch und Janko Bozovic musste Österreich in Ägypten ein Stamm-Trio vorgeben, dem fast die Hälfte der Tore bei der EURO 2020 gehörten. Die bisherige Schwäche des ÖHB-Teams, die fehlende zweite Reihe, schlug mit voller Härte zu. Der Kader in Nordafrika war gemessen an Länderspielen mit großem Abstand der unerfahrenste, seit Österreich regelmäßig zu Großereignissen fährt.
Das ist nun passé: Mit Ausnahme von Maximilian Hermann gibt es keine nennenswerten Ausfälle, nicht einmal Corona wurde bislang zum Spielverderber. Im Vergleich zur EURO 2020 hat der Kader im Durchschnitt sogar eineinhalb Jahre, ein Länderspiel und rund 14 Länderspieltore an Erfahrung dazugewonnen (Statistiken beziehen sich auf den 18-Mann-Kader, Anm.).
"Wenn wir komplett sind, haben wir auf jeder Position zwei, drei Spieler und können damit das Tempo halten. Wenn jemand müde ist, kann ich ein bisschen wechseln", freut sich Teamchef Ales Pajovic über den Vorteil.
Damit ist das größte Manko des letzten Turniers ausgemerzt, auch wenn drei Fragezeichen bleiben. Neben der Corona-Situation, die immer ein Problem werden kann, mussten auch beide Vorbereitungs-Testspiele gegen die Slowakei abgesagt werden. Zudem hat Pajovic nach Gesundheitsproblemen bei Florian Kaiper nur zwei Torhüter "eingepackt", die das ganze Turnier bestreiten müssen.
(Text wird unterhalb fortgesetzt)
2. ÖHB am Höhepunkt des Entwicklungszyklus
In der ersten Hälfte des letzten "Erfolgs-Jahrzehnts" wurde Österreichs Teams von Routiniers getragen, die allesamt kein Bestandteil der Nationalmannschaft mehr sind. Mit einer Ausnahme: Robert Weber, der als einziger Spieler bei allen neun Großereignissen dabei war und im Rahmen des Turniers seinen "200er" im ÖHB-Trikot feiern kann.
Nach dem Abschied von Legenden wie Viktor Szilagyi und Conny Wilczynski konnte Österreich eine "Übergangsphase" übertauchen, die sich kaum in den Ergebnissen niederschlug, obwohl mit Nikola Bilyk nur mehr ein Star - der sich längste Zeit dieser Periode im Aufbau befand - als solcher benannt werden konnte.
Der nun 25-Jährige hat sich in der Weltspitze etabliert, ist fixer Bestandteil eines deutschen Top-Teams und erfüllte seine Rolle bei der Heim-EURO 2020 mit Bravour. Als Dreh- und Angelpunkt wurde er den Ansprüchen gerecht und machte sich mit 46 Toren zum drittbesten Scorer des Turniers.
Nicht zuletzt, weil ihn ein Kreuzbandriss zuletzt ein Jahr zurückwarf und er sich selbst noch nicht bei 100 Prozent sieht (HIER nachlesen>>>), wird es bei der EM 2022 aber darauf ankommen, die Last auf mehrere Schultern zu verteilen. Und die stehen parat.
Aus den Youngstern im Team sind gestandene Spieler geworden, die zum größten Teil bei internationalen Top-Adressen agieren. So haben etwa seit der WM vor einem Jahr Lukas Hutecek (Lemgo-Lippe), Tobias Wagner (Toulouse) und Boris Zivkovic (Azoty Pulawy) den Sprung ins Ausland geschafft.
Mit nur fünf HLA-Spielern im 16-Mann-Kader ist das Maß an internationaler Erfahrung - und das fast durchgehend in Top-Ligen - so hoch wie noch nie.
Und während auf der einen Seite Youngster wie Hutecek, Eric Damböck, Julian Ranftl und Marin Martinovic - der diesmal nur auf Abruf steht - nachdrängen, stehen am "oberen Ende" Routiniers wie Weber, Fabian Posch, Janko Bozovic, Gerald Zeiner oder neuerdings auch Golub Doknic zur Verfügung. Letzterer, immerhin in drei Monaten 40 Jahre alt, wurde erst jüngst eingebürgert und hat erst drei ÖHB-Spiele in Armen und Beinen, sorgt mit seiner Ausstrahlung im Tor aber für einen neuen Aspekt.
Mit dieser Breite im Kader sind die Augen nicht mehr nur auf Bilyk gerichtet, sind mehr Spieler gefragt, das Level eine Stufe höher zu heben. Dass dies gelingen kann, hat die Vorbereitung laut Pajovic gezeigt: "Wir gehen jenen Schritt weiter, den wir jetzt sein sollten."
3. Die Auslosung ist gefährlich
Deutschland
Der in den letzten vier Jahren zweimal eingetretene Horror, mit Frankreich und Norwegen gleich zwei Top-Favoriten in die Vorrunden-Gruppe gelost zu bekommen, ist Österreich dieses Mal zwar erspart geblieben. Vor dem Hintergrund des selbst ausgesteckten Zieles, wieder in Sphären rund um Rang acht vorzudringen - der nicht nur einen Einzug in die Hauptrunde, sondern auch einige Punkte in dieser verlangen würde - ist das Los dennoch knackig ausgefallen.
Auch Deutschlands Handball-Historie zieren mehrere Weltmeister-Titel, auch der letzte große Erfolg bei einer Europameisterschaft - der Titel 2016 - ist noch nicht ewig her, wenngleich sich das DHB-Team im Umbruch befindet und nach jüngeren Enttäuschungen bei EM, WM und Olympia diesmal eher ein Außenseiter ist, wenn es um die Medaillen geht.
Gegen Deutschland sind Österreichs Sportler immer extra motiviert, in Sachen Handball hat das bislang noch selten Früchte getragen: In 53 Spielen gab es erst drei Siege und zwei Unentschieden.
Polen
Polens Handball hat zwar schon bessere Zeiten gesehen, lieferte in der erweiterten Weltspitze aber lange beständig ab. Noch 2007 standen die Polen im WM-Finale, 2009 und 2015 kamen zwei dritte Plätze dazu, auch bei Europameisterschaften waren einstellige Platzierungen zwischen 2008 und 2016 die Regel - dann kam der große Einbruch.
Das Turnier 2018 wurde komplett verpasst, 2020 wurde die Vorrunden-Gruppe ohne Punkte abgeschlossen. Mit WM-Rang 13 gelang ein wenig Rehabilitation, womit die Polen zuallermindest auf Augenhöhe mit Österreich einzuordnen sind. Dass Corona kurz vor Turnierstart im Kader wütet, könnte aber ein ÖHB-Vorteil werden (HIER nachlesen>>>).
Jüngere Erfahrungen gegen Polen gab es für Österreich nicht: Das letzte Duell ist knapp zehn Jahre her und endete mit einer der 15 Niederlagen in den 22 Spielen.
Belarus
Weißrussland ist mittlerweile ein alter Bekannter, seit 2018 kamen vier Duelle in die Statistik. 2019 war das 26:27 in Porec die große Enttäuschung, die den angepeilten EM-Aufstieg in die Hauptrunde verhinderte. Im folgenden Sommer gelang im WM-Playoff mit einem Unentschieden und einem Sieg die Revanche. Schließlich wurde Belarus bei der Heim-EURO 2020 der letzte Gegner, mit einem 36:36 in allerletzter Sekunde gelang Österreich der historische achte Rang.
Weil von den Osteuropäern wenig aktuelles Video-Material verfügbar ist, ist die Einordnung vor Start dieses Turniers schwierig.
Mit zwei Gegnern auf Augenhöhe und einem angeschlagenen Gruppenfavoriten ist im Vierer-Pool für Österreich vom ersten bis zum letzten Platz alles möglich. Für die Hauptrunde wird allerdings Rang zwei benötigt, womit klar ist, dass das eigene Potenzial für das vorgegebene Ziel abgerufen werden muss.