Was für die Herren im letzten Jahrzehnt zur erfreulichen Gewohnheit wurde, ist für fast alle Damen des ÖHB-Kaders Neuland. Ein paar Tage wird ihnen die Aufmerksamkeit der österreichischen Sportgemeinschaft zuteil, wenn sie erstmals seit 2009 an einer Handball-Weltmeisterschaft teilnehmen.
Es ist ein Ziel, auf das zwölf Jahre hingearbeitet werden musste. Und das durch den Corona-Schock kurz vor der Endrunde, durch den das Team ohne Trainer Herbert Müller auskommen muss (HIER nachlesen>>>), keinen Abbruch erfahren soll.
Was mit dem Auftaktspiel am Donnerstag gegen China (18:00 Uhr) beginnt, ist aber nicht nur der vorläufige Höhepunkt mit der Endrunde in Spanien selbst, die nach dem zweiten Match gegen Argentinien auch ein Duell mit Gastgeber und Vize-Weltmeister Spanien schon in der Gruppenphase bereithält.
2024 steht die Heim-Europameisterschaft an, die ähnlich wie beim Aufstieg der Herren ein sportliches Ziel am Horizont mit der Aufgabe darstellt, auch langfristig einen gewaltigen Sprung nach vorn zu machen.
Weil es für die aktuelle Spielerinnen-Generation mit lediglich zwei Ausnahmen - Petra Blazek und Sonja Frey - die erste Endrunde wird, werden die gesammelten Erfahrungswerte von unfassbarem Wert sein.
Das heißt aber nicht, dass sie alles sind.
"Wir wollen definitiv in die Hauptrunde", sagt Müller auch in Abwesenheit an. "Ich will aber nicht, dass die Mannschaft den Druck spürt, das zu müssen. Ich will, dass die Mannschaft es von sich aus will. Wir gehen nicht nur hin, um zu lernen - sondern um zu bleiben."
Kein Fallobst zum Aufsammeln
Und diese Aufgabe ist möglich: Spanien ist als Vize-Weltmeister zwar ein Brocken, der Gastgeber ist aber erst die finale Aufgabe in der Gruppe. Schon vorher kann gegen China und Argentinien die Hauptrunde fixiert werden, für die es "nur" Platz drei brauchen würde.
Freilich: "Wir reden nicht von Fallobst", so Müller. Speziell China ist eine große Unbekannte, kam spät nach Europa und hat sich unter einem neuen Trainer "einkaserniert".
Dennoch: "Ich bin sehr froh, dass wir so eine Konstellation erwischt haben. Gegen Asien, Südamerika und den Gastgeber der WM - das ist eine Gruppe, die Spaß macht, aber auch ausgeglichen ist. Da kann alles passieren. Da kannst du niemanden als kleine Nation betrachten und einfach mal drüberspringen", sagt und warnt Müller.
Das klassische Rezept: Auf sich selbst schauen. Vor diesem Hintergrund waren die beiden hauchdünnen Test-Niederlagen gegen Portugal eine Warnung. "Mit den Ergebnissen bin ich nicht zufrieden, weil wir unkonstant waren. Da erwarte ich mir von einer Mannschaft in WM-Form, dass sie das nach Hause schaukeln."
Konstanz sei das Schlagwort - denn genauso, wie das ÖHB-Frauen-Team gegen große Gegner zuletzt über sich hinauswuchs, habe es sich auch an schwächere Gegner angepasst. "Es gibt die Kleinen gerade nicht, die sind auf Augenhöhe. Da müssen wir über Zusammenhalt und die mentale Stärke kommen, aber auch besser und mehr kämpfen als alle anderen."
Die größte Hürde als größter Lernfaktor
Dass Müller nach zwölf Jahren (Aufbau-)Arbeit ausgerechnet jetzt fehlt und sich von seinem Bruder Helfried vertreten lassen muss, ist eine tragische Fügung. Unterstützung bei der härtesten neuen Erfahrung, dem Zweitages-Rhythmus, kann er so nicht liefern.
"Die meisten Spielerinnen haben noch gar keine Ahnung, was auf sie zukommt. Die physische und mentale Belastung ist nicht zu unterschätzen. Dieser Erfahrungswert ist unbezahlbar. Wenn wir im Vierjahresplan die Heim-EM als großes Ziel ansetzen, ist das ein Riesensprung! Nicht nur eine Treppe, sondern gleich ein Dreisprung in die richtige Richtung", hofft der Teamchef.
Auch Torfrau Petra Blazek, mit 34 Jahren mit größter Routine im Team ausgestattet und als einzige Spielerin schon 2009 aktiv beteiligt, betont die Bedeutung dieses Aspekts: "Es ist wichtig, dass wir mental zusammenhalten, das auch ausstrahlen und miteinander reden. Es darf nicht passieren, dass das Team nach einer möglichen Niederlage in Einzelteile zerfällt. Dann müssen wir als Mannschaft zusammenstehen."
Umbrüche sollen passé sein
Sie hofft, dass das Team bis 2024 zum größten Teil in seiner jetzigen Form zusammenbleibt, sich das größte Problem früher Karriereenden im österreichischen Frauen-Handball vorerst erledigt hat.
"Wir waren immer wieder in einer guten Form, dann sind 2-3 Spielerinnen weggefallen, dann mussten wir wieder von vorn beginnen", bedauert sie.
Gelingt das, wird die jetzige WM einen enormen Anteil an nachhaltigem Fortschritt haben.
In welche Richtung rollt der Schneeball?
Im Hier und Jetzt ist das Erreichen der Hauptrunde aber voll im Fokus. Mit einem guten Start, einem Sieg über China, wäre die Ausgangslage schon ausgezeichnet.
"Dann ist die Wahrscheinlichkeit schon sehr hoch, dass wir aus der Gruppe rauskommen. Das kann der Mannschaft einen Schub geben. Dann bist du mental in einer anderen Lage", so Rückraumspielerin Patricia Kovacs. Das gelte allerdings auch umgekehrt ins Negative.
"Das ist wie ein Schneeball, der immer größer wird. Daher hoffe ich auf einen sehr guten Start."
Mit dem könnte auch der große Corona-Schock, der das Team so unmittelbar vor dem Turnier traf, sicher kompensiert werden. Immerhin: Katarina Pandza kann nach einem negativen PCR-Test zur WM nachreisen.