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20 Jahre Tyson/Holyfield: "Biss in alle Ewigkeit"

Biss-Eklat bei Tyson vs. Holyfield ist 20 Jahre alt - und noch in aller Munde:

20 Jahre Tyson/Holyfield:

40 Sekunden vor dem Ende der dritten Runde: Der erste Biss.

Mike Tyson "knabbert" am Ohr von Evander Holyfield, der springt vor Schmerz wie von der Tarantel gestochen durch den Ring, das Blut rinnt seine Wange hinunter, als "Dessert" wird er von seinem Kontrahenten auch noch in die Seile geschubst.

Der 28. Juni 1997 - ein wahrhaft ereignisreicher Tag.

Der heutige LAOLA1-Chefredakteur Peter Rietzler feierte seinen 35. Geburtstag und ahnte wohl noch nicht so ganz genau, was es eines Tages mit diesem Internet auf sich haben würde. Die deutschen Punk-Legenden "Die Toten Hosen" luden zu ihrem 1000. Konzert ins Düsseldorfer Rheinstadion - es sollte angesichts des Todesfalls einer jungen Niederländerin als traurigster Tag in die Band-Geschichte eingehen.

Und Tyson und Holyfield drehten ihre Version von "Keinohrhasen" - oder anders ausgedrückt: Sie sorgten für einen den legendärsten Kämpfe in der Box-Geschichte.

Der Fight in voller Länge (ab 11:15 Minuten hat der Kampf richtig Biss):

Zum 20. Mal jährt sich also inzwischen jener Fight, dessen Existenz wohl auch vielen Sport-Fans mit der Gnade der etwas späteren Geburt einiges sagt.

Wie ein Ungeheuer stürzte er sich auf Holyfield

Ein Blick ins Archiv kann gerade mit dem Abstand von zwei Jahrzehnten sehr interessant sein. Deshalb hier der damalige Originalbericht der APA über die legendären Ereignisse im MGM Grand in Las Vegas - frisch und emotional in der damaligen Sichtweise ohne die Verklärung durch den Abstand von 20 langen Jahren:

"Es hätte der größte Boxkampf aller Zeiten werden sollen. Doch was 16.331 Zuschauer am Samstag in der ausverkauften Garden Arena in Las Vegas und etwa zwei Milliarden Menschen in 110 Ländern vor den TV-Schirmen beim Retourkampf um den Schwergewichts-Titel nach Version der World-Boxing Association (WBA) zwischen Titelverteidiger Evander Holyfield und Mike Tyson erlebten, war einer der größten Skandale der Boxgeschichte. "Iron Mike", nach einem Kopfstoß Holyfields durch ein Cut am rechten Auge gezeichnet, wurde nach der dritten Runde disqualifiziert, weil er Holyfield in beide Ohren (!) gebissen hatte. Holyfield bleibt damit Weltmeister nach WBA-Version, doch das ist beinahe Nebensache.

Unmittelbar nach seiner berechtigten Disqualifikation wurde Tyson von Nevadas Sport-Kommission auf unbestimmte Zeit gesperrt. Seine Börse von umgerechnet 365 Mio. Schilling wurde eingefroren, Tyson droht sogar eine Anzeige wegen Körperverletzung. Und das vollkommen zurecht. Denn der Herausforderer drehte - blind vor Wut - in der dritten Runde durch. Wie ein Ungeheuer stürzte er sich auf Holyfield und biss ihm im Clinch ein Stück des rechten Ohres ab, das übrigens nach dem Kampf am Ringboden gefunden wurde.

Ringrichter Lane Mills, erst einen Tag vor dem Kampf für Mitch Halpern eingesprungen, gab zwei Punkte Abzug, verwarnte ihn und wies darauf hin, dass er im Wiederholungsfall disqualifiziert würde. Der Kampf wurde fortgesetzt, doch gegen Ende der Runde verbiss sich Tyson erneut in seinen Gegner - diesmal ins linke Ohr. Mills brach den Kampf ab, Holyfield blieb Weltmeister.

Autsch! Holyfield nach dem Biss ins rechte Ohr

"Das ist ein Wahnsinn. Er hat mich absichtlich gebissen. Ich dachte, mein Ohr ist ab", sagte der 34-jährige Holyfield, bevor er im Krankenhaus von einem Chirurgen behandelt wurde: "Er spuckte davor jeweils seinen Zahnschutz aus." Während Holyfield unter Polizeischutz in die Kabine flüchtete, drehte Tyson vollends durch. Er stiftete einen kräftigen Tumult an und schlug auch zwei Polizisten, ehe er von seinen Betreuern gestoppt werden konnte. Auch die Zuschauer gerieten in Rage, skandierten "Schiebung" und warfen enttäuscht Becher und Dosen in den Ring. Später kam es in der Lobby zu wüsten Massenschlägereien, ehe die Polizei den Ort weiträumig absperrte.

Tyson führte seine Entgleisung auf die Kopfstöße seines Gegners zurück, die ihm unter anderem eine sieben Zentimeter lange Platzwunde über dem rechten Auge eingetragen und damit seine Chancen ohnehin schon stark geschmälert hatten. Doch Holyfield wurde dafür nur verwarnt, sehr zum Ärger des in zwei Tagen 31-jährigen Tyson. "Was soll ich denn machen? Es geht um meine Karriere. Ich musste mich doch revanchieren. Ich muss Kinder erziehen. Meine Kinder werden Angst vor mir haben, wenn sie mich mit dieser Wunde sehen", war Tyson völlig außer sich. Und auch Promoter Don King gab seinem Schützling recht: "Auch Holyfield hätten nach den Kopfstößen Punkte abgezogen werden müssen."

Ob die Karriere Tysons nach diesem Eklat überhaupt weitergeht, steht im Moment völlig in den Sternen. Der geschockte Holyfield, der mit 35 Mio. US-Dollar die höchste Börse aller Zeiten als Trost erhielt, wollte ein drittes Duell der beiden noch nicht einmal ausschließen. Tyson jedenfalls verpasste seine Chance, mit einem Sieg noch einmal in vollem Glanz zu erstrahlen. Bereits in den ersten beiden Runden schien er ratlos, aber eben nicht zahnlos. Die Boxwelt, nach dem ersten Kampf im Aufschwung, wird lange brauchen, um ihr nun schwer angeschlagenes Image wieder aufzupolieren."

Er tanzte nun aus Schmerz einen irren Samba

Auch die internationale Presse ließ kein gutes Haar am "Vampir" und "Kannbalen":

Le Parisien (Frankreich): "Tyson hat seinen Mythos mit blanken Zähnen zerrissen. Mike Tyson ist wieder zum Raubtier geworden. Doch nicht zu einem, das seine Gegner mit seinem Glanz und der Macht seiner Fäuste zerstört."

Gazzetta dello Sport (Italien): "Vom King Kong zum Kannibalen - Tyson: ein verrückt gewordener Vampir - In Las Vegas ein freigelassenes wildes Tier, eine Bestie ohne menschliche Züge, eine Bestie, die jemand gezähmt glaubte, die aber, in ihrem Ehrgefühl verletzt, Samstagnacht blutrünstiger als je zuvor wurde."

Corriere dello Sport (Italien): "Der letzte Wahnsinn von Tyson - Die Bestie hat ihre Lefzen aufgerissen und ihre Zähne in den Körper der Beute geschlagen, mit demselben Instinkt, mit dem der Gepard den Hals der Antilope zerreißt. Unglaublich!"

Daily Telegraph (England): "Irgend jemand würde irgendwo einen Boxring und einen Gegner für Tyson finden, und die Kameras und der internationale Medienzirkus würden folgen. Nur die Fans sind stark genug, um Tyson aus dem Boxsport herauszuschlagen. Wenn genug von ihnen in dem Moment den Ausschaltknopf betätigen würden, sobald der frühere Knastbruder auf dem Schirm erscheint, wäre seine Karriere bald beendet."

The Sun (England): "Die Bestie Tyson darf nie wieder zum Boxen zugelassen werden. - Der heute 31 Jahre alte Tyson hat sich nie wirklich von dem jungen Schlägertyp wegentwickelt, der sich mit Schlägereien und Raubüberfällen in den Slums von New York einen üblen Namen machte."

Tages-Anzeiger (Schweiz): "Tysons jüngste Aggression bedeutet nun das Ende, den Absturz ins Bodenlose. Doch im Grunde ist Tysons Kopflosigkeit ein Drama: Das Drama eines starken tumben Kindes."

Blick (Schweiz): "Nach dem ersten Ohrenbiss in den rechten Horcher von Holyfield, ein unglaubliches Bild. Evander, der vor dem Fight in seiner Andacht zu Gott getanzt hatte, tanzte nun aus Schmerz einen irren Samba."

Washington Post (USA): "Jetzt zu sagen, dass der professionelle Boxsport einen neuen Tiefstand erreicht habe, ist lächerlich angesichts des bereits traurigen Zustands, in dem sich dieser Sport befindet. Wenn aber ein Boxer dem Gegner ein Stück des Ohrs abbeißt und auf die Matte spuckt, dann kann man mit Fug und Recht sagen, daß der Boxsport jetzt abartig und unverständlich tief gesunken ist."

New York Times (USA): "Für Mike Tyson war das Credo des Alten Testaments, Auge um Auge und Zahn um Zahn, nicht weitgehend genug. Mit dem Rückfall in seine Zeit als Straßenschläger hat Tyson sichergestellt, daß seine Karriere nie mehr ganz so sein wird wie bisher. Tysons Biss geht als ein Tiefstpunkt in die Boxgeschichte ein."

Twitter war noch knapp ein Jahrzehnt von seiner Erfindung entfernt, doch auch der damalige US-Präsident ließ sich zu einem Kurz-Kommentar hinreißen. "Ich war entsetzt. Ich habe den Fight gesehen, und bis zum Zwischenfall war er wirklich gut", schätzte Bill Clinton das Geschehen, das weltweit in aller Munde war, ein.

Die inszenierte Entschuldigung

Zeitensprung in die Gegenwart.

Tyson und Holyfield sind natürlich ebenfalls noch in aller Munde. Tyson fiel über die Jahre vor allem mit einigen wenig zielsicheren Auftritten abseits des Rings auf, auch die Schuldenfalle schnappte zu. Und ob seine Kinder nicht vor seinem Gesichts-Tattoo am Ende mehr Angst hatten als vor der von Holyfield zugefügten Platzwunde? Wer weiß.

Holyfield und Tyson im Jahr 2014

Fest steht, dass sich die beiden Duellanten keinen dritten Kampf mehr lieferten. Die Steilvorlage für eine lebenslange Feindschaft wurde der Eklat jedoch auch nicht. Tyson und Holyfield können sich in einem Raum aufhalten, ohne einander an den Kragen zu gehen und haben dies seither auch schon einige Male bewiesen - etwa als Tyson im Jahr 2014 sogar die Laudatio auf Holyfield bei dessen Aufnahme in die "Nevada Boxing Hall of Fame" hielt.

Womöglich wissen beide, dass sie natürlich nicht nur, aber auch diese Minuten in Las Vegas ihr restliches Leben lang ganz gut im Geschäft sein lassen.

2009 wurde in der Show der US-amerikanischen TV-Größe Oprah Winfrey die große Versöhnung inszeniert. Die Betonung liegt auf "inszeniert". Denn so richtig entschuldigt habe sich Tyson bei ihm bis heute nicht, wie Holyfield in seinen Erinnerungen zum 20. Jahrestag des Biss-Skandals zu Protokoll gibt.

"Mike und ich hatten nie ein Problem", betont der heute 54-Jährige gegenüber "Sports on Earth", "er hat nie gesagt: 'Oh, ich entschuldige mich für dies und ich entschuldige mich für das, und ich hätte das alles nicht tun sollen.' Er braucht das nicht zu mir zu sagen, und er hat es auch nie getan. Ich verstehe seinen Blickwinkel. Wenn er mich anschaut und zu mir herübernickt, kenne ich mich aus. Er braucht nicht zu sagen 'Evander, es tut mir Leid.'"

Holyfield würde sich noch mal beißen lassen

Holyfield geht sogar so weit, Tyson als Freund zu bezeichnen. "Ich würde Mike auch nie etwas antun. Aber ich kann wohl nicht behaupten, dass er mir nie etwas antun würde", lacht der frühere Champion.

Wie das Biss-Opfer generell einen sehr lockeren Umgang mit dieser Causa pflegt. Er habe sich inzwischen daran gewöhnt, dass alle Welt bei persönlichen Begegnungen erst einmal seine beiden Ohren nach Bissspuren absuchen würde:

"Die Leute schauen immer und dann fragen sie danach. Wenn man genau schaut, gibt es am rechten Ohr auch noch eine Narbe, aus der man ableiten kann, dass mir jemand etwas zugefügt hat."

Die Bisse. Die Wunden. Der Skandal. All die Schlagzeilen. Die erbitterte Rivalität von zwei der bekanntesten Boxer der Geschichte dieses Sports - es ist keine Geschichte mit einem unrühmlichen Ende.

Denn im Juni 2017 meint Holyfield: "Wisst ihr was: Wann immer ich meine Ohren im Spiegel sehe, stört mich das nicht. Ich erinnere mich nur daran, wie ich in neun Minuten 35 Millionen Dollar verdient habe. Das lässt mich alles, was meinem rechten Ohr, das es am meisten erwischt hat, passiert ist, vergessen. Und wenn Mike dasselbe mit meinem linken Ohr machen möchte, würde ich 35 Millionen mehr nehmen."

Die Zeit heilt also tatsächlich alle Wunden. Und Geld manchmal auch.

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