Könige, die selbst vom Thron steigen, haben in der Geschichte außerordentlichen Seltenheitswert. Für gewöhnlich klammern sie sich, getrieben von Erinnerungen an glorreichere Tage, an die Macht, obwohl ihr körperlicher Verfall längst offenkundig ist. Oder es kommt einfach ein jüngerer, stärkerer Rivale und nimmt ihren Platz ein.
Usain Bolts Plan ist es, die Krone eigenhändig abzulegen und erhobenen Hauptes zu gehen. Sollte er bei seinem finalen Triumphmarsch in London nicht stolpern, lässt sich dieser Plan in die Tat umsetzen.
41 Schritte ist der 30-Jährige davon entfernt, eine Dekade der Dominanz perfekt zu machen. Seit der Jamaikaner mit seinem geschichtsträchtigen 9,69-Sekunden-Lauf bei den Olympischen Spielen 2008 in Peking die Welt ungläubig staunend hinterließ, hat er kein großes Rennen mehr verloren. Acht Mal wurde Olympisches Gold, elf Mal WM-Gold um seinen Hals gehängt, der Fehlstart in Daegu 2011, der ihn um den 100-Meter-Sieg brachte, ist ein winziger Makel einer unvergleichlichen Karriere.
Doch der Sprint-König sieht seine Widersacher immer näher an seinen Thron heranrücken, in London nützt er die letzte Chance, ihn aus eigenem Willen zu verlassen. Schneller ist der schnellste Mann der Welt in den vergangenen Jahren nämlich nicht mehr geworden. Mit Müh und Not wird er für die Großereignisse fit, die er vor einigen Jahren noch mit spielerischer Leichtigkeit nach Belieben dominiert hat.
Sollte Bolt in London ein letztes Mal triumphieren, wird 2019 bei der WM in Doha ein anderer Mann seinen Platz einnehmen. Doch was bedeutet die Abdankung des Königs für die Leichtathletik?
Künftig laufen wieder mehrere Menschen ein Rennen um den Sieg, nicht ein Mensch ein Rennen gegen die Uhr mit sieben Statisten im Hintergrund
Tatsache ist, dass die Fußstapfen, die Bolt hinterlässt, so schnell niemand ausfüllen kann. Eine derartige Kombination aus Charisma und sportlicher Leistungsfähigkeit ist äußerst selten, zumal die Leichtathletik dieser Tage nicht gerade mit hoffnungsvollen Talenten überschwemmt wird, sondern vielmehr zur Randsportart verkommt. Tendenziell werden es viele vergleichsweise kleine Prinzessinnen und Prinzen sein, die sich am Thron tummeln.
Unbestritten ist nämlich auch, dass der Bolt-Hype die anderen 46 (!) Bewerbe der Leichtathletik in den Schatten gestellt hat wie nie zuvor. Und auch der 100-Meter-Sprint der Männer – zugegeben, immer schon die Königsdisziplin – hat in den vergangenen Jahren an Reiz verloren. Es war schon lange vor dem Startschuss klar, dass Bolt gewinnt. Irgendwann war auch klar, dass er nicht mehr im Stande ist, einen neuen Weltrekord aufzustellen.
Künftig laufen wieder mehrere Menschen ein Rennen um den Sieg, nicht ein Mensch ein Rennen gegen die Uhr mit sieben Statisten im Hintergrund. Wer kann schon mit freiem Auge den Unterschied zwischen einem 9,58 Sekunden dauernden Lauf und einem 9,63-Sekunden-Sprint ausmachen? Diese Sekundenbruchteile sind unfassbar.
Viel mittelbarer ist da schon ein Rennen zwischen zwei (oder mehr) Menschen. Schon kleine Kinder laufen lieber gegeneinander um die Wette als gegen die Uhr als imaginären Gegner. Insofern ist es doch gut, wenn der Thron ein Weilchen vakant bleibt.