Es ist ein oft bemühter Schmäh: Von Vorarlberg aus ist es näher nach Paris als nach Wien.
Dennoch ist Frankreich in einigen wenigen Hinsichten eine völlig andere Welt als Österreich. Besonders schade ist, dass auf dem Weg in die Alpen irgendwo die Begeisterung für Rugby liegengeblieben ist.
Während die Sportart, in vielen Ländern der Welt die beliebteste überhaupt, bei uns ein absolutes Schattendasein fristet, füllt das olympische Turnier das Stade de France mit knapp 80.000 Menschen.
Und das noch vor der eigentlichen Eröffnung der Olympischen Spiele. Und obwohl die auf das Wesentliche heruntergebrochene Variante Siebener-Rugby, die bei Olympia gespielt wird, im Vergleich zur "Vollversion" mit 15 Mann am Platz von den Puristen ein wenig belächelt wird.
Ein ganzes Turnier im Rugby Union wäre aber unmöglich in einen olympischen Kalender zu quetschen. Von einem solchen Spiel brauchen die Sportler schon einmal eine Woche Erholungspause. Das olympische Siebener-Turnier ist mit Vorrunde, Viertel-, Halb- und zwei Finalspielen in drei Tagen erledigt.
In der Kürze liegt die Würze
Rugby ist eine enorm unterhaltsame Sportart. Und gewinnt in einigen Hinsichten auch den Vergleich mit Cousin American Football, der den Durchbruch bei uns sehr wohl geschafft hat.
Die Sportstätten der Olympischen Spiele 2024 in Paris
Dieser Eindruck verstärkt sich in der Siebener-Version. Sieben Mann gegen sieben Mann, das verschafft viel Raum auf dem Spielfeld für Action - die angreifende Mannschaft ist im Vorteil. Und alles muss schnell gehen, denn nach 14 Minuten plus einer Minute Halbzeitpause ist der Spaß wieder vorbei, die Uhr wird nicht angehalten.
Das steckt mich auch bei meiner allerersten direkten Berührung mit Rugby in einem Stadion, abseits des Fernsehers, sofort an.
Ankick, Fight
Das Stadion ist gesteckt voll mit Franzosen, die das Finale ihrer Helden gegen Topfavorit Fidschi erwarten. Angeführt von Superstar Antoine Dupont, einer der wenigen Spieler aus dem 15er-Rugby, die auch in der Kleinversion brillieren. Dupont ist mit seinem kompakten Körperbau für die offensivere Variante auch bestens geeignet.
Aber erst noch: Das Spiel um Bronze, Südafrika gegen Australien. Ankick, der erste Luftkampf um den Ball, es geht los.
Sekunden dauert es, schon liegen sechs Mann aufeinander und rangeln um den Ball. Hier werden keine Gefangenen gemacht.
Der erste Scrum, die bekannte Standardsituation um den Ball, wird gleich hitzig. Der Schiri muss schlichten, den Grund dafür bekommen zumindest die TV-Zuseher dank Mikro beim Referee direkt mit. Warum gibt es das beim Fußball nicht?
Wer danebengreift, wird weggeräumt
Es folgen 14 Minuten Action, fast schon geordnetes Chaos. Etwas weniger taktisch als das bereits angesprochene Football, dafür deutlich rasanter - und genauso physisch. Im Sekundentakt passiert etwas.
Gepasst werden darf bekanntlich nur seitlich oder nach hinten, ein Fehler wird schnell zum Verhängnis. Nicht nur, weil der Ball gleich einmal weg ist, sondern der Angreifer auch sofort einen Hit kassiert. Australiens Hayden Sargeant greift kurz vorbei, wird von Südafrikas Tristan Leyds komplett ausgehebelt - ein Raunen geht durch die Arena.
Australien hat den besseren Start. Nathan Lawson findet fast am eigenen Ende des Spielfelds eine Lücke, bricht durch, sprintet über das ganze Feld, erzielt den Versuch - also fünf Punkte. Auch die Umwandlung, die "Extrapunkte" per Kick, gelingen - 7:0.
Stark und schnell
Südafrika gelingt der schnelle Konter. Selvyn Davids spielt einen Dropkick nach vorn - Kicks sind die einzige erlaubte Art, den Ball nach vorne zu bewegen - überläuft seinen Gegenspieler und besorgt das 5:7.
Muskelbepackt sind sie alle, Sprinterqualitäten sind auch gefragt: Aus athletischer Sicht ist Rugby eine sehr komplette Sportart. Auch das spricht dafür, sich näher damit auseinanderzusetzen.
Die Umwandlung misslingt, Australien bleibt zur Halbzeit voran. Ein ungewöhnlich niedriger Score für das Sevens. Aber die zweite Hälfte läuft ganz anders.
Binnen vier Minuten zieht Südafrika auf 19:7 weg, die Vorentscheidung?
Minuten reichen zum Comeback
Zwischendurch eine unschöne Szene: Australiens Nick Malouf setzt einen Tackle schlecht an, erwischt Gegenspieler Tiaan Pretorius über der Schulter - ein verbotener Angriff, hohe Verletzungsgefahr. Es folgt der berechtigte Ausschluss.
Trotzdem: Australien gelingt doch noch der Ausgleich, 47 Sekunden vor dem Ende: Henry Paterson bricht durch, räumt den Gegner einfach weg. Es braucht eine Verlängerung. Sudden Death.
Nach nicht einmal einer Minute ist das Spiel doch entschieden, Shaun Williams ist Südafrikas Bronze-Held. Eine Überraschung zugunsten des Außenseiters.
Marchons, Marchons!
Auf eine solche hoffen im Anschluss auch die 80.000. Frankreichs Finalgegner Fidschi hat bei den ersten beiden olympischen Auflagen kein einziges Match verloren, zog nun erneut ungeschlagen ins Endspiel ein.
"Allez les Bleus" hallt es noch vor der Marseillaise - auf "Haka" und Co., die den Sport auch außerhalb seiner Bubble berühmt machen, muss der Zuschauer diesmal verzichten. Die französische Hymne aus zehntausenden Kehlen ist auch beeindruckend.
Aber das Spiel beginnt denkbar schlecht für Frankreich. Fidschi beherrscht die Anfangsminuten, geht auch in Führung. Frankreich präsentiert sich zu abwartend.
Aber im Rugby Sevens geht es schnell.
Natürlich Dupont
Jefferson Lee-Joseph und Rayan Rebbadj gelingt der Ausgleich, mit dem auch die Seiten gewechselt werden. Das Stadion bebt.
Davon lässt sich Fidschi scheinbar einschüchtern. In Rio de Janeiro und Tokio fand das Rugby-Turnier nicht annähernd den Andrang wie in der französischen Hauptstadt.
Dupont kommt zur Halbzeit ins Spiel. Unter der Führung des Superstars und mit dem Publikum im Rücken dominiert Frankreich das restliche Spiel. Er selbst steuert am Ende zehn Punkte zum 28:7 bei.
Frankreich hat das erhoffte, erträumte, aber unerwartete Gold. Das allererste bei den Spielen daheim.
Zu den Klängen von Édith Piaf feiern die Franzosen ihren Triumph, Klischee olé. Aber non, je ne regrette rien - auch ich bereue den kurzen Abstecher weg von meinen Kernsportarten nicht. Österreichs Rugby darf sich freuen, bald einen zusätzlichen Gelegenheitsgast begrüßen zu dürfen.