Olympia 2024
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Zehn Sekunden zwischen Taylor Swift und der Unsterblichkeit

Ein olympisches 100-Meter-Finale ist ein unbeschreiblicher Moment. Der Versuch, ihn trotzdem in Zeilen einzufangen.

Zehn Sekunden zwischen Taylor Swift und der Unsterblichkeit Foto: © getty

Es sind nur zehn Sekunden. Nicht einmal. Aber die wichtigsten zehn Sekunden der Sportwelt. Der Moment alle vier Jahre, in dem sie die Luft anhält.

Die 100 Meter der Männer sind die Königsdisziplin der Leichtathletik. Würden die Olympischen Spiele auf einen Moment heruntergebrochen werden, es würde dieser sein.

Usain Bolt, sowieso. Justin Gatlin. Carl Lewis. Oder einst Jesse Owens. Olympische Legenden für die Ewigkeit, alle geboren in diesen zehn Sekunden.

Und selten hat es einen würdigeren Schauplatz dafür gegeben als das ausverkaufte Stade de France. 80.000 Menschen, die verstummen. Um dann zehn Sekunden aus Leibeskräften zu brüllen.

Ein einziges Geblinke

Es ist schwer, die Atmosphäre in einem ausverkauften Leichtathletik-Stadion über das Fernsehen zu transportieren. Der Jubel bei der Vorstellung. Die Musik. Die Anspannung der Athleten, auch wenn es mancher mit noch so viel Lockerheit zu überspielen versucht.

Knappe zehn Minuten sind es, die den Abend krönen. Eine Zeremonie von vorn bis hinten. Ganz zu Ehren der schnellsten Menschen der Welt.

 

(Text wird unterhalb fortgesetzt)

Der DJ dreht voll auf, das Stade de France verdunkelt sich. Nur für einen Moment. Sekunden später leuchten 80.000 ferngesteuerte LED-Armbänder auf.

Dreist geklaut von Taylor-Swift-Konzerten. Aber wer weiß, wo sie die Idee her hat. Es ist auf jeden Fall eine nette. Der Anblick ist atemberaubend.

Das Spiel der Farben

Das muss er auch für die Athleten sein. Da können sie noch so cool spielen. Als einer nach dem anderen aufgerufen wird, die Laufbahn zu betreten, wechseln die Armbänder die Farben - hin zu den Nationalflaggen jedes einzelnen.

Kenneth Bednarek. USA. Rot-Weiß-Blau.

Oblique Seville. Jamaika. Grün-Gold.

Akani Simbine. Südafrika. Rot-Blau-Grün.

Letsile Tebogo. Botswana. Hellblau-Weiß.

Kishane Thompson. Jamaika. Wieder Grün-Gold.

Fred Kerley. USA. Wieder Rot-Weiß-Blau.

Noah Lyles. Auch USA. Rot-Weiß-Blau. Der Jubel in der Menge wird noch einmal lauter.

Lamont Marcell Jacobs. Italien. Grün-Weiß-Rot.

Zwei Minuten mit sich selbst

BummBumm-BummBumm-BummBumm. Die Musik weicht einem Herzschlag aus den Lautsprechern. Nie im Leben ist der Puls bei einem einzigen der Anwesenden so niedrig. Schon gar nicht bei den acht Mann auf der Laufbahn. Es ist sowieso der Jubel der Massen, der fast alles übertönt.

Die Kamera fährt noch einmal über alle Gesichter. Bednarek und Kerley sind in sich gekehrt, alle anderen flirten mit ihr. Aber schon kurz danach ist jeder nur mehr mit sich selbst beschäftigt.

Quälend lange müssen sie da stehen und warten, während noch einmal Musik kommt. Als bräuchte auch nur ein Mensch in diesem Stadion noch eine weitere Anstachelung auf das, was gleich geschieht.

Zwei Minuten sind es zwischen letzter Vorstellung und der Bitte in den Startblock. Zwei Minuten, in denen jeder dieser Supersprinter im wichtigsten Moment seines Lebens noch einmal mit seinen Gedanken alleingelassen wird.

Was einem in diesen Sekunden durch den Kopf geht? Wer niemals an dieser Startlinie stand, wird es auch niemals wissen.

Alles blickt in eine Richtung

15 Sekunden bleiben bis zum Knall, der den Start markiert. Alles verstummt. Niemand, wirklich niemand schreit irgendetwas hinein - obwohl sich sonst immer ein Dodel findet, der den Moment zum seinigen machen muss.

Alles und jeder ist angespannt, die Smartphones sind am Anschlag.

Selbst bei den Journalisten, obwohl sonst Volunteers sehr schnell da sind, um auf das strenge Filmverbot hinzuweisen. Jetzt gerade kümmert sich keiner der Helfer darum. Sie blicken ja alle selbst gebannt auf die Startblöcke. Für den absoluten Großteil steht ein Once-in-a-Lifetime-Moment an.

Die sprichwörtliche Stecknadel, die fällt, sie würde im Oval gehört werden. Nichtmal das Fallenlassen würde sich jemand gerade trauen und damit einen Fehlstart provozieren.

Nach 100 Metern sind es Millimeter

Lyles läutet die Glocke - wie jeder Olympiasieger in diesem Stadion
Foto: © getty

Die Pistole. Schluss mit der Stille. Sie ist das Zeichen für die Sprinter - und um nichts weniger für alle 80.000, sich die Seele aus dem Leib zu brüllen. Es ist unbeschreiblich laut.

Alle zehn Meter ist eine gelbe Markierung auf der Laufbahn. Sie funktionieren in diesen Augenblicken wie ein Sekundenzeiger. Nur zu einer Sache taugen sie nicht: Um abzuschätzen, wer gerade vorne liegt.

Wir befinden uns nicht in den Zeiten der boltschen Übermacht. Die Sprint-Weltspitze liegt unglaublich nah zusammen. Es sind die längsten zehn Sekunden, die vorstellbar sind - und trotzdem reichen sie nicht aus, einen Sieger auszumachen.

Nach 9,79 Sekunden steht die Stoppuhr. Lyles und Thompson haben sie zeitgleich ausgelöst. Drei Hundertstel dahinter Kerley, überhaupt sind nach elf Hundertstel alle acht Muskelberge im Ziel. Noch nie in der Geschichte blieben alle Finalisten unter den zehn Sekunden.

Es braucht das Fotofinish, dann ist klar: Lyles hat die Nase vorn. Treffender wird das Sinnbild nicht mehr, es ist am Foto nicht mehr als seine Nasenspitze. Der Weltmeister ist auch Olympiasieger. Noch nie in der Geschichte ist auch die Entscheidung um Gold so knapp.

Das Highlight dieser Spiele, es ist schnell vorbei. Quälende vier Jahre sind es bis zur nächsten Chance, diesen unglaublichen Moment wieder zu erleben.

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