Das russische Tennis ist schon seit einigen Jahrzehnten dafür bekannt, immer wieder weibliche Schützlinge im Teenageralter hervorzubringen.
Die prominentesten Beispiele sind mit Sicherheit Anna Kournikova und Maria Sharapova. Nun klopft mit Mirra Andreeva die nächste junge Dame mit langen blonden Haaren und einem leichten amerikanischen Akzent an der Tür zur Tennis-Weltklasse.
Schon im Vorjahr machte die immer noch erst 16-Jährige auf sich aufmerksam, als sie ihrem Drittrunden-Einzug bei den French Open ein Achtelfinale in Wimbledon folgen ließ.
Nun steht Andreeva auch bei den Australian Open unter den letzten 16. Nach ihrer 6:0, 6:2-Gala über die Weltranglisten-Sechste Ons Jabeur rang sie in der Nacht auf Freitag auch die Französin Diane Parry im Tiebreak des dritten Satzes nieder.
Aufgewachsen im kalten Sibirien
Eine beeindruckende Leistung der 1,71 Meter großen Rechtshänderin, die in Krasnojarsk, der zweitgrößten Stadt Sibiriens, geboren und aufgewachsen ist.
Krasnojarsk ist ein wichtiger Knotenpunkt der berühmten Transsibirischen Eisenbahn und einer der größten Aluminiumproduzenten des Landes. Die Stadt mit etwa einer Million Einwohner ist für ihre Naturlandschaft bekannt und der Schriftsteller Anton Tschechow bezeichnete sie eins sogar als die schönste Stadt Sibiriens.
Im Gegensatz zu ihrer Heimat strahlt die junge Mirra aber keine Kälte aus. Ganz im Gegenteil: Sie versprüht mit ihrer offenen Art Freude und Wärme – sowohl auf als auch neben dem Platz.
Zu verdanken hat sie das wohl vor allem ihrer natürlichen Ausstrahlung. Sie sagt, sie sei wie jeder andere Teenager. Sie hat keine Hobbys, aber wenn sie Zeit hat, sieht sie gern fern.
Chemie als Schwachstelle
Andreeva muss immer noch ihre Schulausbildung machen, die sie über eine russische Online-Schule absolviert. Laut eigener Aussage mache sie das "ganz gut". Sie meint, sie sei nicht schlecht in Mathe und Englisch, aber wenn es um Chemie gehe, dann sei das eine ganz andere Geschichte. Alterskollegen werden sich in diesen Erzählungen wohl wiederfinden können.
Ich muss meine Schule machen, aber mal ehrlich, manchmal mache ich sie nicht.
"Ich muss meine Schule machen, aber mal ehrlich, manchmal mache ich sie nicht", sagt sie lachend. "Ja, ich ziehe es vor, stattdessen eine Fernsehserie zu schauen, aber ich würde sagen, dass ich nett bin, hoffe ich, aber ich weiß nicht, wie ich mich beschreiben soll."
"Ich glaube, ich kümmere mich um andere Menschen. Das ist vielleicht ein gutes Zeichen. Ich weiß es nicht. Aber man muss nur mit mir reden, dann wird man verstehen, was für ein Mensch ich bin", versucht sich Andreeva in einer Selbstbeschreibung.
"Ich will bescheiden bleiben, wobei es aber mein Trainer nicht mag, wenn ich untertauche. Solche Leute mag er nicht", so Andreeva, die vom ehemaligen französischen Profi Jean-Rene Lisnard gecoacht wird. Dieser verlangt von seinem Schützling das für eine Weltklasse-Spielerin erforderliche Selbstbewusstsein.
"Werde nicht als Diva auftreten"
Andreeva: "Ich werde einfach ich selbst sein, und ich bin sicher, wenn ich mein Ding durchziehe, werde ich, sagen wir mal, auf dem Boden bleiben. Ich werde nicht als Diva auftreten."
Bei ihren letzten Australian Open trat Andreeva noch bei den Junioren an, wo sie das Finale gegen ihre Doppelpartnerin Alina Korneeva verlor und lange darüber grübeln musste.
"Es war hart, im Nachhinein war es aber ein Segen", so Andreeva, die noch vor Paris drei Top-50-Spielerinnen in Folge schlug und danach nicht mehr aufzuhalten war. Mittlerweile steht sie selbst kurz vor dem Sprung in die Top 30.
"Ich kann nicht sagen, dass sich etwas geändert hat. Ich mache einfach mein Ding, Tag für Tag, und das war's", sagte Andreeva. "Ich mache einfach das, was sich auf dem Platz richtig anfühlt. Ehrlich gesagt, wenn wir mit meinen Trainern über den Plan für das Spiel sprechen, denke ich kurz vor dem Spiel darüber nach, aber dann vergesse ich das ganze Zeug und spiele einfach so, wie ich mich fühle, und das war's."
Sie will doch nur spielen
Diese Gedankengänge spiegeln ihren befreiten, vielleicht auch ein bisschen naiven Zugang zum Tennis wieder. Sieht man ihr zu, hat man nicht das Gefühl, dass sie sich überwinden müsste. Dafür agiert sie mit zuviel Freude auf dem Platz. Zudem will sie sich nicht mit konkreten Zielen unter Druck setzen.
"Ich spiele einfach nur", will sie einfach nur versuchen, jeden Moment und jede Erfahrung zu genießen und die Erlebnisse zu erleben, von denen viele andere 16-Jährige nur träumen können.
Wobei sie nicht verhehlen kann, dass es ihr viel bedeutet, Seite an Seite mit ihren Kindheitsidolen zu stehen. So blieb ihr beispielsweise eine Begegnung mit Novak Djokovic in den Umkleidekabinen in Erinnerung: "Er ging in die Umkleidekabine und summte ein Lied, daran erinnere ich mich. Er bereitete sich auf sein Spiel vor. Ich weiß nicht mehr, gegen wen er spielte, aber er war so entspannt."
Wobei auch Roger Federer und Rafael Nadal trotz der geringeren Anzahl an Grand-Slam-Titeln einen hohen Stellenwert bei der Russin haben: "Roger war immer mein Idol. Er war immer meine Nummer 1, aber nach Roland Garros 2022, als Rafa gewann, weiß ich nicht warum, aber in meinem Kopf hat sich alles gedreht. Jetzt stehen Rafa und Roger an erster Stelle, aber ich will Novak nicht beleidigen ... also sagen wir, sie sind drei auf den ersten Plätzen."