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"Sinner" oder Winner? Warum es so kompliziert ist

Der Dopingfall "Jannik Sinner" sorgt weiter für Aufregung. Und er wird wohl auch noch längere Zeit ein Thema bleiben. Ein Kommentar:

Foto: © getty

Es ist alles sehr kompliziert.

Das trifft nicht nur auf Regierungserklärungen vergangener Bundeskanzler zu, sondern auch und vor allem auf die Doping-Richtlinien im Sport.

Wer kennt sie nicht, die Geschichten rund um die unglücklich in Kontakt mit verbotenen Mitteln gekommenen Athleten? 

Ex-Fußball-Profi Paolo Guerrero trank aus einer verunreinigten und nicht ordentlich abgewaschenen Kaffee-Tasse, Langläuferin Therese Johaug rieb sich mit der falschen Sonnencreme ein, Sprinter Linford Christie aß zuviele Avocados, Radfahrer Floyd Landis trank ein Glaserl Whiskey zuviel, Kicker Adrian Mutu wollte seine Potenz mit Kokain steigern, Radprofi Alberto Contador aß ein hormonbehandeltes Steak und Maria Sharapova übersah schlichtweg ein Mittel auf der Dopingliste.

Physio kontaminierte Sinner

In diese Liste fügt sich die Geschichte rund um Jannik Sinner gut ein.

Der Weltranglisten-Erste im Männer-Tennis, der am Sonntag im Finale der US Open nach dem zweiten Grand-Slam-Titel seiner Karriere greift (ab 20:00 Uhr im LIVE-Ticker), wurde ohne Handschuhe von seinem Physiotherapeuten bearbeitet, der sich davor eine Wunde auf der Hand mit einem in Italien rezeptfrei erhältlichen Spray behandelte.

Dadurch sei es zu einer "unwissentlichen transdermalen Kontamination" gekommen. Sinner wurde am 10. März beim ATP-1000-Turnier in Indian Wells positiv auf das verbotene Steroid Clostebol getestet.

Soweit, so gut bzw. schlecht. Das Ungewöhnliche an diesem Fall war die sehr diskrete Vorgangsweise von ATP bzw. der International Tennis Integrity Agency (ITIA). Obwohl der positive Test schon im März stattfand, drang der Fall erst im August mit dem Freispruch des Gerichts an die Öffentlichkeit. 

Zwischen Test und Freispruch gewann Sinner die Turniere in Miami und Halle und stand zudem im Halbfinale der French Open. Dem italiener wurden nur das Preisgeld und die Weltranglistenpunkte von seinem Halbfinal-Einzug in Indian Wells, wo die Tests abgenommen worden sind, aberkannt. 

Die Erklärung Sinners und seinem Team sei durchaus schlüssig gewesen. Das Gericht sah kein Verschulden und auch keine Fahrlässigkeit bei dem Spieler, der in Folge seinen Athletiktrainer und seinen Physiotherapeuten entließ.

Entscheidung sorgt für Unmut bei Spieler-Kollegen

Eine Entscheidung, die bei vielen Profi-Kollegen für Verwunderung und Ärger sorgte. Unter anderem meldeten sich Nick Kyrgios und Denis Shapovalov kritisch zu Wort und orteten eine grobe Ungleichbehandlung gegenüber schlechter in der Weltrangliste platzierten Spielern.

"Das ist lächerlich! Ob es ein Unfall war oder geplant - er wurde zwei Mal auf eine verbotene Substanz positiv getestet... dafür sollte er für zwei Jahre gesperrt werden", nahm sich Kyrgios wie gewohnt kein Blatt vor den Mund. 


Zumindest in diesem Fall liegt der australische Bad Boy wohl nicht komplett falsch. Liefern Athleten einen positiven Doping-Test ab, wird seit einigen Jahren konsequent und hart durchgegriffen.

Selbst bei verpassten Dopingkontrollen drohen rigorose Strafen. So wurde der Schwede Mikael Ymer wegen drei verpasster Doping-Tests innerhalb von zwölf Monaten für gleich 18 (!) Monate gesperrt.

Ungleichbehandlung im Fall Sinner?

Auch wenn der Skandinavier sich sicherlich extrem ungeschickt verhalten hatte, ist klar, dass Sinner bei seinem Verfahren sehr glimpflich davongekommen ist.

Hört man sich in Spielerkreisen um, wird mehrheitlich von einer gefühlten Ungleichbehandlung gesprochen. Viele glauben, dass ein Spieler außerhalb der Top 100 deutlich härter bestraft worden wäre, als beim Weltranglisten-Ersten vorgegangen wurde.

Schließlich wäre auch der Schaden für den Tennis-Sport deutlich größer, wenn eine neue Nummer eins plötzlich aus dem Verkehr gezogen werden müsste, als wenn dasselbe Schicksal "nur" einem etablierten Challenger-Spieler ereilen würde. Der mediale Gegenwind würde sich in Grenzen halten. Vielmehr könnte man stolz seine harte Linie bei Dopingtests vermarkten.

Sinners Unschuld steht für die meisten außer Frage

Wobei die meisten Athleten allerdings auch davon überzeugt sind, dass Sinner wirklich nur aufgrund der oben angesprochenen unglücklichen Umstände mit dem Steroid kontaminiert war. Kaum jemand glaubt, dass der sympathische Südtiroler, der sich zu Jahresbeginn bei den Australian Open den ersten Grand-Slam-Titel seiner Karriere sichern konnte, wirklich ein klassischer Doping-Sünder ist.

Auf den Punkt brachte es in dieser Woche Roger Federer, der zu diesem Thema in der Sendung "Today" im US-Fernsehsender NBC erstmals dazu Stellung nahm: "Ich denke, wir alle vertrauen so ziemlich darauf, dass Jannik nichts getan hat. Aber die mögliche Unstimmigkeit, dass er nicht aussetzen musste, während sie nicht 100 Prozent sicher waren, was los ist – ich denke, diese Frage muss beantwortet werden."

Diesen Spielern gelang der Sprung zur ATP-Nummer 1

Man müsse dem Prozess vertrauen, aber er verstehe den Frust, erklärte der Schweizer und fragte: "Ist er genauso behandelt worden wie andere?"

Sinner war zwar wegen der zwei positiven Tests jeweils kurz suspendiert gewesen, ging aber jeweils erfolgreich dagegen vor. Dies kam aber erst nach Abschluss des Verfahrens an die Öffentlichkeit.

Djokovic sieht "Mangel an Konsistenz"

Auch Novak Djokovic sieht deshalb "einen Mangel an Konsistenz". Die Fälle vieler Spieler seien ähnlich gelagert gewesen, sagte der 24-fache Grand-Slam-Turniergewinner. "Bei ihnen gab es nicht das gleiche Ergebnis. Und jetzt ist die Frage, liegt es an den finanziellen Mitteln, ob ein Spieler es sich leisten kann, eine beträchtliche Menge an Geld für eine Anwaltsfirma zu zahlen, die ihn oder sie in dem Fall vertreten kann."

Transparenz sieht in jedem Fall anders aus. Die ATP, die WTA und die Doping-Agenturen werden sich entscheiden müssen, wie sie künftig vorgehen wollen und eine einheitliche Linie anstreben müssen.

Halep-Sperre von vier Jahre auf neun Monate reduziert

Wahrscheinlich wird diese dann auch etwas toleranter agieren müssen, um Fälle wie bei Simona Halep zu verhindern.

Die Rumänin, selbst ehemalige Nummer eins der Welt, wurde zunächst für vier Jahre gesperrt. Erst nach über einem Jahr wurde die Sperre vom internationalen Sportgerichtshof CAS auf neun Monate reduziert, nachdem sie nachweisen konnte, dass es sich um eine unabsichtliche Kontamination handelte.

Wenig verwunderlich prangerte auch Halep im Vergleich zu ihrem Verfahren eine "Ungleichbehandlung" im Fall Sinner an.

"Ich denke, es ist klar, dass es völlig anders beurteilt wurde als mein Fall. Ich habe während des gesamten Prozesses sehr gelitten und finde es nicht fair, dass ich so lange nicht an Wettkämpfen teilnehmen durfte. Ich glaube, dass alle Athleten das gleiche Urteilsvermögen haben und gleichbehandelt werden sollten, egal ob sie die Nummer eins oder die Nummer 200 sind."

Volle Härte oder milderer Umgang bei Grenzfällen?

Der Zorn der Rumänin und der Wunsch nach einer Veränderung ist mehr als verständlich. Stellt sich nur die Frage, wie sich ein milderer Strafrahmen beim Thema Doping auf den künftigen Umgang mit verbotenen Substanzen auswirken könnte?

Werden Spieler wieder sorgloser? Probiert es der eine oder andere Athlet dann sogar vermehrt absichtlich mit unlauteren Mitteln?

Eine Prognose ist schwierig, die Konsequenzen kaum vorauszusagen. Dementsprechend schwierig wird die Entscheidung werden.

Es ist eben alles sehr kompliziert. 



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