Die Tennis-Welt bekommt am 11. September 2022, dem Finaltag der diesjährigen Ausgabe der US Open, einen Premieren-Grand-Slam-Champion vor die Nase gesetzt.
Das frühe Scheitern von Rafael Nadal, die Impfposse um Novak Djokovic und der ewig rekonvaleszente Maestro Roger Federer machen es möglich. Tatsächlich ist der US-amerikanische Major das erste Grand-Slam-Turnier seit 2003, rein zufällig auch das Geburtsjahr von Carlos Alcaraz, bei dem kein Mitglied der "Big Three" das Viertelfinale erreicht.
Casper Ruud, Karen Khachanov, Carlos Alcaraz und Frances Tiafoe heißen jene Herren, die in Flushing Meadows noch darum kämpfen, das Erbe von Daniil Medvedev anzutreten, der im Vorjahr die Trophäe in den New Yorker Abendhimmel streckte.
LAOLA1 nimmt die vier Anwärter im Vorfeld des Semifinal-Tags noch einmal genauer unter die Lupe:
CASPER RUUD
Nicht einmal ein Jahr ist es her, genauer gesagt geschah es am 12. September 2021, dass Casper Ruud als Nummer 10 erstmals in seiner Karriere in den Top 10 der ATP-Weltrangliste aufschien. Rund 365 Tage später könnte der 23-jährige Norweger die lästige zweite Stelle seiner Weltranglistenposition verschwinden lassen.
Dabei fehlen in der Sammlung des Rechtshänders eigentlich noch die ganz großen Erfolge. Von den neun ATP-Titeln die Ruud bisher gewann waren alle der niedrigsten Turnierkategorie, der 250er-Ebene, zuzurechnen. Der gebürtige Osloer ist ausgewiesener Sandplatzspezialist. Acht seiner neun ATP-Titel gewann Ruud auf der roten Asche. Einzig in San Diego konnte der Norweger im Oktober des Vorjahres einen Titel auf Hartplatz gewinnen.
Bis zum famosen Finaleinzug bei den French Open 2022 und der deutlichen Endspiel-Niederlage gegen Rafael Nadal war die Grand-Slam-Bestmarke des Skandinaviers ein Achtelfinale bei den Australian Open. In Flushing Meadows war zuvor immer spätestens in der dritten Runde Endstation.
Berrettini-Match als Machtdemonstration
Dass der Schützling von Vater und Ex-ATP-Spieler Christian Ruud ausgerechnet bei den US Open seine Liebe für den Hardcourt entdeckt, kam jedoch nicht ganz so überraschend. Schon im Frühjahr zeigte Ruud beim ATP-1000-Event von Miami, dass auch auf diesem Belag mit ihm zu rechnen ist. Erst im Endspiel wurde der Norweger von Carlos Alcaraz ausgebremst, beim Rogers Cup in Montreal, nur zwei Wochen vor Turnierstart in Flushing Meadows, zog Ruud ins Semifinale ein.
Was für den ersten Grand-Slam-Titel eines Norwegers spricht, ist auch, dass Ruud sich im Turnierverlauf kontinuierlich gesteigert hat. Hatte der Skandinavier in den ersten Runden gegen Tim van Rijthoven und Tommy Paul noch Extraschichten einlegen müssen, folgte im Viertelfinale gegen Matteo Berrettini eine makellose Performance, die einen verdienten Dreisatzsieg zur Folge hatte. Casper Ruud hat wohl seinen zweiten Lieblingsbelag entdeckt.
Gegen Halbfinal-Gegner Karen Khachanov hat Ruud im direkten Vergleich die Nase vorne. Wie aussagekräftig ein Duell auf Sand vor mehr als zwei Jahren heute noch ist, sei jedoch dahingestellt. Wenn der Norweger sein Niveau aus der Vorrunde hält, ist ihm das Finale allemal zuzutrauen.
KAREN KHACHANOV
Wenn man an russische Tennisspieler denkt, fällt der Name Karen Khachanov sicher nicht als Erster. Zu erfolgreich waren Daniil Medvedev und Andrey Rublev in den letzten Jahren.
Dabei war es der zuletzt in den Windschatten geratene Khachanov, der dem größten russischen Tennis-Boom seit den goldenen Jahren von Marat Safin den nötigen Kickstarter gab. Am 4. November 2018 gewann der mittlerweile 26-jährige Mann aus Moskau das Spiel seines Lebens.
Im Finale von Paris-Bercy behält der Rechtshänder nach Siegen gegen Alexander Zverev und Dominic Thiem im Endspiel gegen den zuvor seit 22 Spielen unbesiegten Novak Djokovic mit 7:5, 6:4 die Oberhand.
Seither ist, blickt man nur auf den Trophäenschrank des Russen, nicht viel passiert. Khachanov wartet seit seinem Masters-Triumph in Paris auf einen Titel auf der ATP-Tour.
Marathon-Mann Khachanov
Semifinal-Tag bei einem Major? Absolutes Neuland für Khachanov. Bisher waren zwei Viertelfinals bei Wimbledon (2021) und den French Open (2019) das höchste der Gefühle. Seit seinem Paris-Titel ging es bei Masters-Turnieren auch nur mehr einmal ins Halbfinale, beim Rogers Cup 2019.
Auch bei den US Open 2022 nahm der 1,98-Meter-Mann nicht den einfachen Weg in die Vorschlussrunde. Nur in der dritten Runde gelang gegen Jack Draper ein Dreisatzerfolg, zuletzt musste Khachanov zweimal über die volle Distanz. Rund sieben Stunden verbrachte der Russe bei den Erfolgen über Pablo Carreno Busta und Nick Kyrgios insgesamt auf dem Court.
Auch für den Davis-Cup-Champion von 2021 ist in Flushing Meadows bis zum Titel alles drin, wenn ihm nach den zuletzt langen Matches ein gute Regeneration gelingt. Wichtig wird für die russische Nummer drei sein, sein gewohnt druckvolles Spiel auch dem defensiv starken Casper Ruud im Halbfinale erfolgreich aufdrücken zu können. Wenn jemand gezeigt hat, dass in einem Turnier alles aufgehen kann, kommt wohl kein besseres Beispiel als Karen Khachanov in den Sinn.
CARLOS ALCARAZ
Das Viertelfinal-Match von Carlos Alcaraz gegen Jannik Sinner wird uns noch länger in Erinnerung bleiben: Über fünf Stunden dauerte der Fight zwischen den beiden Jungstars. Im vierten Satz wehrte der Spanier einen Matchball bei Aufschlag Sinners ab, ehe er schlussendlich seinen erstmaligen Halbfinal-Einzug bei einem Grand-Slam-Turnier sicherstellte.
Alcaraz ist damit der jüngste Major-Halbfinalist seit Landsmann Rafael Nadal in Roland Garros im Jahr 2005 erstmals unter die letzten Vier stürmte. Bei den US Open war zuletzt nur Pete Sampras im Jahr 1990 jünger.
Schon vor diesem denkwürdigen Match gegen Sinner war der Schützling von Juan Carlos Ferrero für viele Experten reif für den ersten Grand-Slam-Titel. Das Können dazu hätte er allemal.
Zwei Fünf-Satz-Partien in Folge
Fraglich ist nun allerdings wie er die Belastungen der letzten Tage wegstecken kann. Schließlich musste Alcaraz auch schon im Achtelfinale gegen den ehemaligen US-Open-Champion Marin Cilic aus Kroatien über die volle Distanz gehen.
Das bislang einzige Duell gegen Halbfinal-Gegner Frances Tiafoe verlor der damals noch 17-Jährige beim Sandplatz-Turnier in Barcelona knapp in zwei Sätzen. Seinen Durchbruch feierte Alcaraz damals allerdings erst wenige Monate später bei den US Open, als er bei seiner Premiere im vergangenen Jahr sensationell bis ins Viertelfinale stürmte. Der Kreis könnte sich nun schließen.
Zusätzlichen Ansporn wird Alcaraz die Aussicht auf Platz eins in der Weltrangliste geben. Sollte er es ins Finale schaffen und Ruud nicht, würde er den Russen Daniil Medvedev vom Thron stoßen. Sollte auch Ruud ins Endspiel einziehen, würde es zwischen den beiden zum direkten Duell um die Spitze kommen. Es wäre der perfekte Showdown zum Abschluss dieses Turniers.
FRANCES TIAFOE
Österreichischen Tennis-Fans ist Frances Tiafoe noch in guter Erinnerung: Im Vorjahr überraschte der 24-jährige US-Amerikaner bei den Erste Bank Open mit seinem Sturmlauf bis ins Endspiel, wo er erst von Alexander Zverev in die Schranken verwiesen wurde.
Auf seinem Weg dorthin spielte sich der extrovertierte Youngster allerdings mit vielen Show-Einlagen in die Herzen des Wiener Publikums. Seinen in der Stadthalle gezeigten Aufwärtstrend konnte Tiafoe in dieser Saison zumindest teilweise bestätigen. Beim Sandplatz-Turnier in Estoril stand der Weltranglisten-26. im Endspiel, in Wimbledon scheiterte er erst im Achtelfinale hauchdünn mit 5:7 im fünften Satz an David Goffin.
Nun steht er in Flushing Meadows erstmals im Halbfinale eines Grand-Slam-Turniers: Dass noch viel mehr Potenzial in dem Sohn zweier Bürgerkriegs-Flüchtlinge aus Sierra Leone steckt, war vielen Fachleuten schon länger bewusst. Im Dezember 2013 gewann er als jüngster Spieler aller Zeiten die Orange Bowl - das größte Nachwuchsturnier der Welt. Bereits als 17-Jähriger feierte er sein Debüt bei den US Open.
Fehlende Professionalität in jungen Jahren
Seitdem wartet die Tennis-Welt auf den ganz großen Durchbruch des Ausnahme-Talents, der in seinen jungen Jahren laut seinen Betreuern oftmals das letzte Fünkchen Professionalität vermissen ließ.
Unter anderem seine Vorliebe für Süßigkeiten ließ sich mit den Anforderungen an den Körper eines Weltklasse-Athleten nicht wirklich vereinbaren. Laut Coach Wayne Ferreira gehören diese Zeiten aber nun der Vergangenheit an.
Mit dem Heim-Publikum im Rücken könnte Tiafoe mit zwei weiteren Siegen den Knoten endgültig platzen lassen. Mit seinem ersten Grand-Slam-Titel würde der US-Amerikaner auch eines seiner persönlichsten Anliegen erreichen: "Ich weiß, dass ich mithelfe, dass viele dunkelhäutige Kinder Tennis spielen. Das freut mich enorm."