And now, the end is near. And so I face the final curtain.
So sang Frank Sinatra einst und wäre er heute noch unter uns, so gäbe es kaum einen passenderen Interpreten, der Johannes Thingnes und Tarjei Boe einen Abschiedssong trällern könnte.
Hinter dem norwegischen Brüder-Paar liegt eine unfassbare Karriere. Zwei Männer, die eine ganze Generation an Biathlon-Fans geprägt haben, bestritten mit dem Massenstart am Osloer Holmenkollen ihr allerletztes Rennen.
Die beiden wurden emotional vor Heimpublikum verabschiedet (Mehr dazu hier>>>).
Als Johannes im Rahmen des Weltcups in Ruhpolding überraschend sein Karriereende verkündete, flossen viele Tränen. Nicht nur bei ihm, auch bei den Fans. Eine Woche später tat es ihm sein fünf Jahre älterer Bruder Tarjei gleich und gab ebenso bekannt, nach dieser Saison aufzuhören.
Damit verliert dieser großartige Sport auf einen Schlag zwei seiner größten Stars. Auch wenn dahinter (oder vielmehr daneben) mit Sturla Holm Laegreid und Martin Uldal bereits die potenziell nächsten norwegischen Dominatoren warten: Die Boe-Brüder werden auch als Persönlichkeiten abgehen.
"Boe will sich seiner Familie annehmen, der Vater zweier Söhne will selbige aufwachsen sehen. Diese Entscheidung im besten Sportleralter so zu treffen, davor kann man nur den Hut ziehen."
Ohne sie geht dem Biathlonsport etwas an Strahlkraft verloren, eine Strahlkraft, die über den Sport hinausreicht.
Rücktritt am Zenit
Man mag es aus sportlicher Sicht schade finden, dass die Karriere des erst 31-jährigen Johannes schon zu Ende geht. Aus menschlicher Sicht hingegen ist sein Schritt voll und ganz nachvollziehbar. Boe will sich seiner Familie annehmen, der Vater zweier Söhne will selbige aufwachsen sehen. Diese Entscheidung im besten Sportleralter so zu treffen, davor kann man nur den Hut ziehen.
Johannes geht am Höhepunkt seines Schaffens, ganz gemäß dem Motto: Wenn's am schönsten ist, soll man aufhören. Das tun die beiden Brüder nun quasi Hand in Hand. Schöner könnte ich es mir als Fan kaum vorstellen.

Sein Debüt im Weltcup feierte Johannes Thingnes Boe am 20. Jänner 2013 in Antholz. Sein großes Talent konnte er dabei aber noch nicht aufblitzen lassen. Er rutschte aufgrund von Ausfällen in die Staffel, schoss stehend aber eine Strafrunde. Auch der Rest der Saison ließ noch nicht erahnen, was für ein Ausnahmesportler sich da seine ersten Sporen auf höchster Ebene verdiente.
"Schiss" vor dem eigenen Bruder
Bruder Tarjei war damals bereits ein Top-Star, der schon den Gesamtweltcup gewonnen hatte. Nachdem nun auch Johannes ins Weltcup-Team aufgerückt war, wurde ein damals schon rund zwei Jahre altes Statement von Tarjei medial wieder breitgetreten. Nach seinem ersten Weltcupsieg im Dezember 2010 in Hochfilzen meinte er, es gäbe einen noch besseren als ihn: "Meinen jüngeren Bruder Johannes. Da hab ich schon Schiss, wenn er mal weltcuptauglich ist. Der ist wirklich gut!"
Der "Böminator", der (fast) alle Rekorde bricht
Ich hatte diese Aussage längst vergessen und damals auch nicht für "voll" genommen. Ehrlich gesagt, hielt ich das damals eher für einen taktischen Kniff von Tarjei, um sich nicht zuviel Druck aufladen lassen zu müssen.
Als die "großen Drei" sich die Ehre gaben
Nun sollte es also tatsächlich einen geben, der noch besser als der ohnehin schon begnadete Tarjei ist, der zu diesem Zeitpunkt schon sieben WM-Goldene zuhause hängen hatte? Ja, sollte es. Selten habe ich mich so getäuscht und noch seltener war ich so froh darüber. Schon im Dezember 2013 holte Boe im Sprint von Le Grand Bornand seinen ersten Weltcupsieg. Den ersten von insgesamt 80.
"Überhaupt kann sich jeder Fan glücklich schätzen, der die 10er-Jahre mitverfolgen durfte. Diese drei (und Tarjei!) so oft im selben Bewerb sehen zu dürfen, war außergewöhnlich."
Unvergessen bleiben für mich seine Duelle mit Martin Fourcade, der gemeinsam mit ihm und Ole Einar Björndalen in meinen Augen das Dreigestirn im Biathlon-Olymp bildet (die drei standen kumuliert unfassbare 344 Mal auf einem Weltcup-Podest).
Überhaupt kann sich jeder Fan glücklich schätzen, der die 10er-Jahre mitverfolgen durfte. Diese drei (und Tarjei!) so oft im selben Bewerb sehen zu dürfen, war außergewöhnlich. In dieser Zeit tummelten sich im Biathlon-Weltcup so viele Superstars, dass ich das Gefühl hatte, man sollte noch drei Bewerbe erfinden, um jedem von ihnen sein Rampenlicht zu gönnen.
Sieben außergewöhnliche Jahre
Johannes Thingnes Boe's "Prime" sollte aber erst kommen. Die Saison 2018/19 war die erste, in der er seine unglaubliche Dominanz ausstrahlen konnte. Der Norweger gewann erstmals den Gesamtweltcup und holte sich dazu auch sämtliche Disziplinenwertungen.

Fortan überstrahle Boe alles. In den vergangenen sieben Jahren gewann er sechs Mal den Gesamtweltcup. Spätestens bei der WM 2023 in Oberhof machte er sich unsterblich, holte in allen drei Individual-Bewerben sowie in der Mixed- und Single-Mixed-Staffel Gold. Der Sprint bleibt dabei besonders in Erinnerung, als Johannes vor Tarjei Gold holte. Bei den diesjährigen Titelkämpfen krönte sich der jüngere Bruder mit seinen nun 23 Goldenen zum Rekordweltmeister.
Bruderliebe > Erfolge
Tarjei stand die meiste Zeit seiner Karriere im Schatten seines Bruders. Neid oder Missgunst war zwischen den beiden aber nie zu spüren, im Gegenteil. Tarjei feierte die Erfolge seines Bruders wie seine eigenen - und umgekehrt.
Der Rücktritt der Boe-Brüder markiert das Ende einer Ära, nicht nur für Norwegen, sondern für den gesamten Biathlonsport. Die Weltcup-Loipen werden weiterhin von Athleten durchquert werden, doch die Spuren, welche die beiden hinterlassen, werden unauslöschlich bleiben.
Insbesondere Johannes hat Maßstäbe gesetzt und den Sport auf ein neues Level gehoben. Und er hat es auf eine Art und Weise getan, die schwer zu übertreffen sein wird - oder wie es Frank Sinatra formulieren würde: "And more, much more than this, I did it my way."