Tim Stützle und Marco Rossi – beides Supertalente, beide deutschsprachig und beide potenzielle NHL-Offensivbringer. Rossi wuchs in Feldkirch auf, wo sein Vater einst für die VEU dem Puck nachjagte, Stützle stammt aus Viersen nahe Düsseldorf.
Was verbindet und was unterscheidet die beiden Kandidaten für eine Top-Ten-Platzierung im NHL Entry Draft 2020?
LAOLA1-Experte Bernd Freimüller legt seine Einschätzung vor und berichtet über die Stärken und Schwächen beider Youngster:
Die Jugend-Karrieren
Stützle entsprang dem Krefelder Nachwuchs, von wo er mit 15 Jahren ins Mannheimer Eishockey-Internat wechselte. Dort spielte er von Anfang an in der DNL, bevor er im Sommer 2019 in die erste Mannschaft wechselte und gleich gesetzt war.
Seine sehr frühe Zusage für die University of New Hampshire war damit ebenso hinfällig wie das Interesse der Seattle Thunderbirds (WHL), die ihn im letzten Sommer drafteten.
Im Gegensatz zum College (nach seinen DEL-Einsätzen nicht mehr spielberechtigt) könnte er aber theoretisch im nächsten Sommer nach Seattle wechseln, so sein Drei-Jahres-Vertrag mit Mannheim eine Ausstiegsklausel beinhaltet oder er auch so die Freigabe bekommt.
Der gebürtige Feldkircher Marco Rossi durchlief den üblichen Werdegang für Vorarlberger Spieler: Über Dornbirn zum Schweizer Kooperationspartner SC Rheintal. Von dort wechselte er schon im Alter von 12 Jahren in die Organisation der ZSC Lions, spielte sich in Zürich über die U15, U17 und U20 bis ins Farmteam GC Lions in die Swiss League nach oben.
Im Gegensatz zu Stützle wechselte Österreichs vielversprechendes Talent nach Übersee, und zwar schon eine Saison vor seinem Draft-Jahr. Bei den Ottawa 67's gehört er seit zwei Saisonen zu den Top-Spielern der gesamten CHL (Canadian Hockey League).
Statistiken und Alter
Es gibt natürlich einige beachtliche Statistiken für beide – Rossi könnte sich in der Reihe der besten CHL-Scorer aller Zeiten für sein Alter einreihen, Stützle hat bereits einen Rekord für 17-jährige DEL-Spieler aufgestellt.
Nur: NHL-Scouts interessiert das alles nicht. Es wird auch keiner von ihnen am Ende mit dem Taschenrechner dasitzen und die Punkte pro Spiel von Rossi, Quinton Byfield und Cole Perfetti vergleichen, um so eine OHL-interne Reihung zu erhalten.
Ebenfalls irrelevant: Dass Stützle knapp vier Monate jünger als Rossi ist. Das Alter hat zwar für Scouts einen größeren Wert als die Stats (von einem 19-Jährigen, der durch zwei Drafts durchgegangen ist, erwartet man mehr als von einem 17-jährigen Rookie), doch Spieler im selben Draft-Jahrgang gelten als gleich alt.
Klar: Rossi würde in der DEL weniger Punkte machen als seine aktuell 82 Punkte (28 Tore, 53 Assists) in 37 Spielen mit Ottawa. Stützle umgekehrt würde natürlich im Junioren-Bereich bessere Werte aufweisen als seine 27 Punkte in 28 Spielen mit Mannheim.
Nur: Diese Werte mit irgendwelchen Rechenformeln zu vergleichen und auf etwaige NHL-Werte der Zukunft umzurechnen, überlassen Scouts den Analytikern. Sie müssen dagegen aufgrund ihrer Dutzenden von Viewings abschätzen, wer von den beiden über die Jahre eine bessere NHL-Karriere haben wird, und da sind Zahlen von heuer irrelevant.
Das sind also alles nur Nebengeräusche für die NHL-Scouts, doch wie könnten die Diskussionen in den Meetings Rooms wirklich ausfallen? In welche Einzelteile werden sie die beiden möglichen Draft-Nachbarn zerlegen?
Natürlich stets am wichtigsten: Die Spieler von heute müssen auf eine NHL-Zukunft projiziert werden. Welche Stärken bleiben gegen größere und bulligere Spieler bestehen? Welche Schwächen wachsen sich über die Jahre aus oder könnten auf höherem Niveau zum Problem werden?
Offensives Upside
Beide Kandidaten werden als potenzielle Offensiv-Bringer gedraftet – natürlich nicht als Rollenspieler (in dieser Draft-Position sowieso nicht) und nicht als reine Defensiv-Stürmer. Ob sie potenzielle Franchise Player werden können (wie etwa ein Connor McDavid), würde ich bezweifeln, aber das Zeug zu sehr guten NHL-Offensiv-Spielern haben sie allemal.
Ich glaube nicht, dass auch nur ein Scout Marco Rossis Offensiv-Potenzial anzweifelt, er kommt hier sogar der wahrscheinlichen Nummer 1 im Draft, Alexis Lafreniere, am nächsten. Seine Hände und Spielverständnis werden sich ohne Zweifel auf das NHL-Niveau übertragen. Vor allem im Powerplay, wo er automatisch etwas mehr Platz hat, wird er tödlich sein.
Rossi hat die Gabe, Pässe durch einen Wald von Stöcken und Schlittschuhen zu spielen, ohne diese zu telegraphieren. Eine hohe Assist-Quote ist alleine schon durch seinen Platz im Überzahlspiel (erstes Unit) garantiert. Im Gegensatz zu vielen Passgebern ist er aber auch ein Spieler, der vor dem Torschuss nicht zurückscheut, daher nicht leicht auszurechnen. Allerdings: In Ottawa spielt er im Powerplay an der linken Halfwall, als Linksschütze von dort zu scoren, ist nicht leicht.
Ich könnte mir vorstellen, dass er im NHL-Bereich auch die Seiten wechseln wird. Als Passgeber ist er in der Überzahl auf allen Positionen verwendbar, kann von überall seine Mitspieler einsetzen. Was ihn so besonders macht: Spielzüge und Pässe, an die andere Spieler gar nicht denken (können), gehen ihm scheinbar mühelos von der Hand, das gilt auch für Dekes gegen Feldspieler und Goalies.
Auch Stützle hat großes Offensiv-Potenzial, auch wenn seine Scorer-Zahlen vielleicht denen von Rossi etwas hinterherhinken könnten. Ich habe Stützle heuer im U20-Nationalteam von beiden Halfwalls agieren sehen. Seine Pässe kommen hart und genau – J.J. Peterka profitierte davon bei der Junioren-WM.
Was Stützle bereits verinnerlicht hat: Er trennt sich im richtigen Moment von der Scheibe, "overhandled" sie nicht, gibt sie aber unter Druck auch nicht blind her. Diese Gabe rechtfertigte auch von Beginn der Saison an seinen Platz in der DEL. Wie Rossi zieht er im Zweifelsfall auch eher den Pass als den Schuss vor, beide verfügen über einen ansatzlosen und harten Handgelenksschuss und sind so von der Mitte des Slots stets torgefährlich. Bombenschüsse mit großem Windup von weiter draußen sind von beiden eher nicht zu erwarten, die Zeit dafür gäbe es in der NHL ohnehin nur selten.
Defensiv-Spiel
Hier hat Rossi mit Stand heute sicher Vorteile, auch wenn man den Unterschied zwischen Junioren- und Senioren-Bereich einbezieht. Er ist immer auf der richtigen Seite des Pucks, opfert seine Defensive nicht zugunsten der Offensive und kann das Spiel mit und ohne Puck nach vorne verlagern, ohne die Zone vorzeitig verlassen zu müssen. Dieses defensive Spielverständnis wird auch ein Grund sein, warum er die NHL als Center betreten wird und nicht – wie viele Spieler vor ihm – auf den Flügel muss, um dort im eigenen Drittel einfachere Aufgaben erfüllen zu können.
Stützle dagegen hat im eigenen Drittel noch öfters Probleme. Sein Positionsspiel stimmt zwar, aber ab und zu versucht er schwierige Pässe quer durchs Drittel (genial, wenn sie aufgehen) und klärt die Zone nicht energisch genug. Nichts, was zu großen Besorgnissen Anlass gibt, aber trotzdem: Ich habe ihn heuer schon als Flügel und Center gesehen, als Winger würde ich mich derzeit mit ihm etwas wohler fühlen, und das könnte auch seine Ausgangsposition in der NHL sein.
Spielverständnis
Das fließt natürlich in die vorherigen Aspekte ein, beide sind intelligente Spieler, die Spielzüge im Voraus denken.
Allerdings: Rossi ist das, was man einen "Cerebral Player" nennt, einen hochintelligenten Spieler also. Er macht einfach keine dummen Sachen oder "Low percentage plays" – natürlich können nicht alle Pässe und Spielzüge aufgehen, aber bei keinem davon wird sich ein Scout denken: "Das war keine gute Idee."
Instinkt-Spieler Stützle dagegen erinnert mich immer an ein ungezähmtes Wildpferd – im Gegensatz zu Rossi, der sich ab und an seine Zeit mit dem Puck nimmt, treibt er das Spiel eher an, vergeudet nicht gerne Zeit mit Stillstehen und langem Puckhalten.
Beide Spielweisen haben ihre Für und Wider und müssen im NHL-Bereich sicher gewisse Abstufungen erfahren, doch Rossi und Stützle verfügen über weit überdurchschnittliche "Hockey IQs", die sich allerdings in höchst unterschiedlichen Spielstilen manifestieren.
Eislaufen
Hier ist Stützle dem Österreicher klar überlegen – und das ist keine Kritik an Rossi, denn statt seinem Namen könnte man 99 Prozent der Draft-Klasse einsetzen und dieser Satz hätte immer noch seine Gültigkeit.
Stützle ist bereits jetzt – ohne übermäßige Muskelkraft – ein Weltklasse-Skater. Ich erinnere mich noch an mein erstes Viewing bei einem U16-Turnier im August 2017. Schon damals konnte er die Scheibe in höchstem Speed über alle drei Zonen tragen, skatete um Gegner und sprang über deren Stöcke, dass mir die Augen übergingen. Viele Spieler haben guten Speed ohne Scheibe, bevor sie diese langsamer macht – Stützles Speed mit dem Puck ist um nichts geringer als ohne.
Sein U20-Teamkollege Lukas Reichel hat einen ähnlichen - nicht ganz so guten - Antritt mit der Scheibe – was ihn als sehr guten Prospect von einem Top-Mann wie Stützle unterscheidet, ist die Quickness und Agilität bei den seitlichen Schritten und Richtungsänderungen.
Rossis Eislaufen ist der am meisten ausbaufähige Aspekt
Nicht nur an einem unglaublichen Speedskater wie Stützle gemessen, ist Rossis Eislaufen immer der am meisten ausbaufähige Aspekt seines Spiels gewesen. Das habe ich auch in jedem meiner Reports (gehen bis Juli 2016 zurück) angemerkt und dieses Manko wurde von ihm auch nie geleugnet.
Die Entwicklung in seinem Eislaufen über die Jahre ist allerdings augenscheinlich. Er kommt schneller vom Fleck, seine ersten Schritte und sein Top-Speed wurde besser. Auf NHL-Standards umgesetzt, könnten ihm aber gewisse Grenzen gesetzt sein. Allerdings: Auch John Tavares kam als durchschnittlicher Skater in die NHL, jährliche Arbeit hob ihn aber auf eine höhere Stufe.
In einem Skating-Bereich ist Rossi Stützle sogar überlegen: Seine Standkraft und Balance ist besser, zumindest im Junioren-Bereich sieht man ihn so gut wie nie überpowert oder gar zu Boden gehen. Auch im NHL-Bereich wird das bis zu einem gewissen Level gelten, aber hat er wirklich die Gabe, sich in engen Lagen von den Gegner absetzen zu können?
Dieser Aspekt wird bei Rossi - vor allem im Zusammenhang mit seiner Größe - wohl der einzige sein, der in Meetings länger diskutiert wird. Ein aktuelles Final-Urteil traue ich mir aber nicht zu: Eislaufen vom Bildschirm zu bewerten, ist wie ein Porträt zu malen, wo das Modell hinter einer Milchglasscheibe sitzt.
Physis
Wie in Europa wurden auch in der NHL über die Jahre Größe und Gewicht weniger wichtig - das physische Spiel hat auch dort abgenommen, auch wenn einige (legale) Checks bei den meisten europäischen Refs und Fans noch immer Schnappatmung auslösen würden.
Rossi wird vom Central Scouting Bureau der NHL mit heutigem Datum mit fünf Fuß, neun Inches (1,80m) und 183 Pounds (83 Kilo) geführt. Das ergibt einen Feuerhydranten-Körpertyp – nicht groß, aber ungemein kräftig, vor allem im Unterkörper. Aus einem Kind wurde so bald ein Mann. Diese um die knapp 1,80 Meter liegende Größe hätte ihn vor Jahren noch von einem hohen Draft-Rang ausgeschlossen, diese Zeiten sind aber vorbei.
Allerdings: Rossis Hände, Hockey Sense und Offensiv-Upside im Körper und mit den Eislauffähigkeiten seines OHL-Kollegen Quinton Byfield (6'4/215)? Lafreniere könnte diesem Frankenstein-Konstrukt nur neidlos zum ersten Platz gratulieren. Und so sehr Rossis Zunahme an Muskelkraft und Beinarbeit auch zu bewundern ist, kann sie ihm sogar etwas zum Nachteil gereichen. Denn er dürfte schon das "Finished Product" sein, viel mehr kann er nicht zulegen, will er nicht quaderförmig werden.
Bei Tim Stützle ist noch viel Luft nach oben, wenn es um seine Physis geht. Er wird vom CSB mit 6'1/187 (1,86m/85 Kilo) geführt, mir kommt er fast noch etwa mehr "skinny" vor. Er wird sicher noch in allen Körperbereichen an Muskelmasse zulegen, auch wenn ich ihn eher als einen Typen wie Vancouvers Elias Pettersson sehe, der auch nie zu einem stämmigen Spieler werden wird. Doch Stützle hatte in engen Lagen sowohl in der DEL als auch bei der Junioren-WM ab und an Probleme, muss sich hier sicher noch steigern.
Bei beiden Spielern gibt es in diesen Aspekten sicher Fragen: Bei Rossi wegen dessen "Size/Skating-Ratio" (nicht wegen der Größe an sich), bei Stützle wegen seiner Widerstandskraft, wenn er weniger Platz bekommt. Rossis Hockey Sense bzw. Stützles Beinarbeit machen diese aber zu Diskussionspunkten, keineswegs unüberwindlichen Hindernissen.
Fazit
Beide Spieler sind wohl sichere Top-Ten-Kandidaten. Stützle könnte im Verlauf der Saison vielleicht etwas der Saft ausgehen, er hat aber bei Junioren-WM einen so guten Eindruck hinterlassen, der wohl bis zum Ende der Saison reichen wird.
Rossi präsentierte sich heuer nicht international (europäische Scouts mussten ihn daher in Übersee beobachten und das tun längst nicht alle), wird in der OHL aber eher immer besser. Sie werden wohl in den Draft-Diskussionen oft Seite an Seite erwähnt werden. Wer den einen bekommt, wird sehr froh sein, wem der andere in den Schoß fällt, ebenso...