Die Karriere eines Eishockeyspielers verläuft in den seltensten Fällen geradlinig.
Rückschläge prägen das Dasein langfristig, stärken einen für die Zukunft – im Idealfall sogar für die NHL. Das Karriereziel eines jeden jungen Cracks ist es, einmal in der besten Liga der Welt aufzulaufen, sein Können vor ausverkauften Hallen mit teilweise über 20.000 Zuschauern unter Beweis zu stellen.
Und die Krönung ist freilich das Erringen des Stanley Cups, der prestigeträchtigsten Trophäe des Sports. Wayne Gretzky, Mario Lemieux, Sidney Crosby oder Alexander Ovechkin: Sie alle haben zumindest einmal in ihren illustren Karrieren den 15,5 Kilogramm schweren Pokal in die Höhe stemmen dürfen.
Anderen Superstars wie Connor McDavid, zweifelsohne schon jetzt einer der besten Spieler der NHL-Geschichte, war dies bislang nicht vergönnt.
Auch Kirill Kaprizov, Wild-Teamkollege von ÖEHV-Export Marco Rossi, kam dem Stanley Cup geschweige den Finals noch nicht nahe, doch ausgerechnet der 25-jährige Russe ist es, in den die Minnesota-Fans ihre Hoffnungen setzen.
Denn der Winger hauchte der Franchise neues Leben ein, zerschmetterte schon etliche Rekorde – und das, obwohl er äußerst spät in die NHL kam. Genauer gesagt nämlich im Jänner 2021, im Alter von 23 Jahren und neun Monaten.
Nicht nur deshalb ist seine Geschichte eine ungewöhnliche und zugleich höchst interessante. Die Art und Weise, wie die Franchise aus St. Paul – der Hauptstadt des US-Bundesstaates Minnesota – auf Kaprizov aufmerksam wurde, bestätigt dies.
Umweltkatastrophe brachte Kaprizov auf das Wild-Radar
Im Prinzip war es Schicksal. Im Herbst 2014 herrschten in Kalifornien heftige Waldbrände. Zum gleichen Zeitpunkt befanden sich Scouts der Wild-Organisation in Russland, wollten aber bereits die Heimreise antreten.
Diese wurde jedoch aufgrund des Smogs im westlichen Teil der USA verzögert, wodurch sich den Talentebeobachtern noch die Möglichkeit bot, ein Spiel von Metallurg Novokuznetsk zu beobachten.
Damals im Kader: Der gerade einmal 17-jährige Kaprizov, der seine ersten Schritte in der Kontinental Hockey League (KHL) setzte. Im KHL Junior Draft des selben Jahres wurde der Linksschütze an erster Stelle von seinem Heimatklub ausgewählt, Metallurg verhalf ihm daraufhin zu seinem Profi-Debüt.
Die Scouts erkannten sein Talent, außerdem hatten die Wild ein Ass im Ärmel: Ryan Stoa, selbst in Minnesota geboren und damals Teamkollege von Kaprizov. Er motivierte den jungen Russen und half ihm für seine weitere Laufbahn, der englischen Sprache mächtig zu werden.
"In welcher Runde wurde ich gewählt? In der fünften? Ich denke, sie haben mich danach sofort vergessen."
Beim NHL-Draft 2015 erwarb Minnesota den 135. Pick der Boston Bruins, um Kaprizov mit selbigem in der 5. Runde zu wählen. Damit drafteten die Wild zum ersten Mal nach elf Jahren wieder einen Russen - die bis dahin letzten waren 2004 Roman Voloshenko und Anton Khudobin.
Mit dieser Wahl traten die Wild eine Welle los. Nur 2021 pickte man kein russisches Nachwuchstalent, insgesamt sicherte sich Minnesota in den letzten sieben Jahren die NHL-Rechte an sieben Spielern aus dem flächenmäßig größten Land der Welt.
"Ich denke, sie haben mich danach sofort vergessen"
Das allgemeine Problem mit Spielern aus Russland: Eine Unzahl von ihnen entscheidet sich lieber für den Helden-Status im eigenen Land als in Nordamerika für Furore zu sorgen. Bei Kaprizov machte es ebenfalls lange den Anschein, dass sein Weg nicht in die NHL führen würde.
Früh kamen erste Zweifel auf, den Angreifer jemals im Wild-Trikot zu sehen. Kaprizov fühlte sich von Minnesota nicht genug wertgeschätzt, gestand er 2017 in einem Interview mit dem russischen Sport-Express. "Sie waren nicht allzu sehr an mir interessiert. In welcher Runde wurde ich gewählt? In der fünften? Ich denke, sie haben mich danach sofort vergessen."
Die Enttäuschung war ihm ins Gesicht geschrieben, treibte ihn aber gleichzeitig an. Bei der U20-WM 2017 in Kanada krönte er sich mit neun Toren in sieben Spielen zum Top-Torschützen, hinzu kamen drei Assists, die ihn gemeinsam mit dem Schweden Alexander Nylander zum besten Scorer des Turniers machten.
Russische Talente sind wie scheue Rehe
Damit hatte er sich eine Einberufung ins All-Star-Team redlich verdient und mit seinen beeindruckenden Leistungen die Aufmerksamkeit der Wild auf sich gezogen. Der ehemalige General Manager Chuck Fletcher agierte in den Jahren zuvor vorsichtig - im Nachhinein zu vorsichtig.
"Wenn man sich russischen Talenten zu stark nähert, werden sie manchmal scheu und laufen zurück in den Wald", meinte der GM damals passend. Doch der nunmehrige Manager der Philadelphia Flyers hatte gar keine andere Wahl und setzte sich in den nächsten Flieger nach Toronto - aus einem Engagement wurde aber (vorerst) nichts.
Weil: "Erst als ich bei der Weltmeisterschaft spielte, rührten sie sich und begannen mit meinem Agenten zu sprechen. Aber wir haben gesehen, wie Toronto Nikita Zaitsev umworben hat. Das war nicht einmal in meiner Nähe."
Deswegen unterzeichnete Kaprizov einen Dreijahresvertrag bei ZSKA Moskau - jenem Klub, wo Zaitsev zuvor spielte. In den folgenden Jahren reifte sein Spiel, heimste der Russe einen Titel nach dem anderen ein.
Die Bilanz: Drei Teilnahmen am KHL All-Star Game, zwei Mal Torschützenkönig, je einmal Grunddurchgangs-MVP und Sieger des Gagarin Cups, dem KHL-Titel. Außerdem war er mit 22 Jahren und 172 Tagen der jüngste KHL-Spieler aller Zeiten, der die Marke von 100 Toren erreichte und holte 2018 mit Russland Olympia-Gold.
Das unglaubliche Rookie-Jahr
Im April 2020 stand Kaprizov vor der Wahl, seine bereits hochdekorierte Karriere in der Heimat fortzusetzen oder doch den finalen Schritt in die NHL zu gehen. 74 Tage nachdem sein Vertrag bei ZSKA Moskau auslief, unterzeichnete er schließlich einen zweijährigen Entry-Level-Vertrag in Minnesota.
In den stark verzögerten Stanley-Cup-Playoffs durfte er jedoch nicht auflaufen und keinen Cent an Gehalt, Leistungs- oder Antrittsprämien erhalten. Das erste Vertragsjahr wurde somit praktisch verbrannt, allerdings konnte er an den Trainingscamps teilnehmen und hatte lange Zeit, sich in den USA einzuleben.
Am 14. Jänner 2021 war es dann soweit. Kaprizov bestritt im ersten Saisonspiel bei den Los Angeles Kings sein NHL-Debüt - und schlug sofort ein.
Der 4:3-Sieg nach Overtime trug seine Handschrift, der Russe verbuchte zwei Assists und wurde mit seinem Tor in der Verlängerung zum Matchwinner. Außerdem war er der erste Crack, dem dieses Kunststück in seinem ersten Spiel gelang und erst der dritte in der NHL-Geschichte, der bei seiner Premiere in der Overtime traf.
(Artikel wird unter dem VIDEO fortgesetzt)
VIDEO: Kaprizovs Overtime-Tor
Die Rekordjagd ging weiter: Am 12. März erzielte er gegen die Arizona Coyotes (4:0) seinen ersten Hattrick. Rund ein Monat später verbuchte Kaprizov seinen 37. Scorerpunkt, womit er den von Marian Gaborik in der Saison 2000/01 aufgestellten Wild-Rookie-Bestwert von 36 Torbeteiligungen brach.
Trotz der aufgrund von Corona verkürzten Spielzeit stellte der Russe neue Franchise-Rekorde in Bezug auf Tore (27) und Punkte (51) auf. Schließlich wurde er mit der Calder Memorial Trophy als Rookie des Jahres ausgezeichnet und war damit der erste Spieler in der Geschichte der Wild-Franchise, dem diese Ehre zuteil wurde.
Die Rekorde purzeln
Nach der Rekord-Saison folgte jedoch das nächste Drama: Monatelang verhandelten beide Parteien einen neuen Vertrag aus, zugleich kamen Gerüchte auf, wonach Kaprizov in die Heimat zurückkehren würde, wenn er sich mit den Wild nicht einigen sollte.
Am 21. September 2021, also knapp drei Wochen vor Saisonstart, kam es schlussendlich zur Einigung. Kaprizov unterschrieb einen Fünfjahresvertrag, der ihm in dieser Zeitspanne rund 45 Millionen US-Dollar einbringt. Der Winger dementierte indes, mit einer Rückkehr nach Russland geliebäugelt zu haben.
Mit dem Multi-Millionen-Deal stellte er, wie sollte es anders, wieder Rekorde auf.
Er wurde nicht nur zum bestbezahlten Spieler der Wild-Historie, sondern auch in der Geschichte der Akteure in ihrem zweiten Jahr in der NHL. In der ersten vollen NHL-Saison seit Beginn der Corona-Pandemie zertrümmerte Kaprizov gleich etliche weitere Bestmarken.
Am 2. April 2022 brach Kaprizov mit 84 Punkten den Franchise-Rekord von Marian Gaborik für Punkte in einer Saison, und später im Monat brach er auch Gaboriks Franchise-Rekord für Tore in einer Saison mit 43. Am Ende der Saison stellte Kaprizov mit 47 Toren, 61 Assists und 108 Punkten den Franchise-Rekord der Wild in jeder der wichtigsten Scoring-Kategorien auf.
Trotz sieben Treffer unterlagen die Wild dann aber in der ersten Playoff-Runde den St. Louis Blues mit 2:4.
Kaprizovs furchterregende Reise in die Heimat
Und wieder folgte eine Offseason, in der Minnesota um seinen Superstar bangen musste. Der kehrte nämlich inmitten des russischen Angriffkriegs auf die Ukraine in seine Heimat zurück, um seine Familie zu besuchen. Das, obwohl Wild-GM Bill Guerin ihn ermutigt hatte, in den USA zu bleiben.
Wenige Tage nachdem Landsmann Ivan Fedotov - den die Philadelphia Flyers im NHL-Draft 2015 wählten - wegen des Erwerbs eines Militärausweises im Jahr 2017 verhaftet worden war, tauchten plötzlich Berichte auf, dass auch Kaprizov aufgrund desselben Vergehens in Russland gefahndet werde. Die damaligen Teamkollegen bei Salavat Yulaev Ufa sollen sich dadurch der Wehrpflicht für russische Männer zwischen 18 und 27 Jahren entzogen haben.
Kaprizovs Vater bestritt jedoch die Berichte und erklärte, Kaprizov sei Student an der Russischen Präsidentenakademie für Volkswirtschaft und öffentliche Verwaltung und seine militärischen Verpflichtungen seien daher aufgrund seines Studiums verschoben worden.
Obwohl die Berichte von den westlichen Medien weitgehend widerlegt wurden, versuchte Kaprizov in den darauffolgenden Tagen zweimal, Russland zu verlassen, wobei ihm einmal die Einreise in die Vereinigten Staaten über Dubai und später die Einreise über die Karibik verweigert wurde, bevor er nach Russland zurückkehrte.
Nachdem Minnesota alles in seiner Macht stehende getan hat, um Kaprizov wieder ein US-Visum zu ermöglichen und somit wieder einreisen zu können, kam er am 1. August erfolgreich über die Türkei in New York City an, bevor er zur Freude aller am nächsten Tag nach Minnesota zurückkehrte.
Führt Kaprizov Minnesota in nächster Zeit zum Stanley Cup?
Kaprizovs Weg bei den Wild ist nämlich noch lange nicht vorbei. Mit ihm will die Franchise aus Minnesota erstmals in der Historie in das Stanley-Cup-Finale einziehen, in der Folge natürlich auch triumphieren.
Er soll eine Ära prägen. So wie es Marian Gaborik, Mikko Koivu, Zach Parise oder Ryan Suter in den letzten Jahren getan haben. Und damit zur Führungsfigur von großen Talenten wie Marco Rossi werden, mit dem er über kurz oder lang (hoffentlich) für Angst und Staunen bei den Teams der NHL sorgt.
Doch nicht wenige attestierten ihm, mit 1,78 Metern zu klein für ein schlagkräftiges Dasein in der NHL zu sein. Kaprizov strafte seine Kritiker lügen, überzeugt mit einem sensationellen Hockey-IQ, schnellen Händen und Beinen sowie einem punktgenauen und kräftigen Schuss.
Außerdem sucht sein Wille seinesgleichen - diesen hat sich der 25-Jährige in jener Zeit erkämpft, in der er nicht mehr als ein Fünftrunden-Pick für die Wild war. Nun ist er nach zwei Jahren bereits einer der erfolgreichsten Spieler der Franchise-Geschichte. Und seine Rekordjagd wird kein Ende nehmen.