Im Gegensatz zu Scouts, die wissen, dass ihre Einschätzungen erst mit einem gewissen zeitlichen Abstand beurteilt werden können, bewertet die Fanseele oft früher.
Drei NHL-Beispiele dafür, warum sich Einschätzungen schnell drehen können und endgültige Urteile immer noch zu früh sind:
Simon Nemec (D) | David Jiricek (D) |
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Runde 1 (2022), #2 New Jersey Devils | Runde 1 (2022), #6 Columbus Blue Jackets |
56 NHL-Spiele (3-16-19) | 43 NHL-Spiele (1-9-10) |
78 AHL-Spiele (14-28-42) | 81 AHL-Spiele (13-42-55) |
Meine Einschätzung vor dem Draft: Nemec vor Jiricek, aber nach langem Nachdenken
Nemec, der schon aus der schwächeren slowakischen Liga (Nitra) gedraftet wurde, verbrachte die ganze Saison 22/23 in der AHL in Utica. Dort gewöhnte er sich nach und nach an das nordamerikanische Eishockey. Der Tscheche Jiricek spielte auch 55 Spiele in der AHL (Cleveland), kam aber schon zu vier NHL-Einsätzen.
Der Unterschied zwischen den beiden liegt auch darin, ob man das Florett oder den Säbel bevorzugt. Nemec war immer der subtilere Mann der beiden – seine größte Stärke (die auch meine Wahl letzten Endes beeinflusste) ist sein Hockey Sense. Er macht so gut wie keine schlechten Entscheidungen, lässt sich nie hetzen, verfügt über eine ausgezeichnete Gap und weiß, wann er pinchen kann und wann nicht. Die Stimmen gegen ihn verwiesen auf ein bestenfalls durchschnittliches Körperspiel und einen schwächeren Schuss – gerade Letzterer verbesserte sich aber schon in seinen letzten Monaten in Nitra.
David Jiriceks Stärken sind dagegen eher offensichtlich – er wirft seinen mächtigen Körper (neun Kilo und sechs Zentimeter mehr als Nemec) ohne Rücksicht auf Verluste in die Zweikämpfe, was zu krachenden Checks und auch einigen Strafzeiten führt. Darüber hinaus verfügte er immer schon über einen Bombenschuss, was ihn auch zu einem Faktor im Powerplay macht.
Nemec begann auch die heurige Saison in der AHL, ehe er Anfang Dezember den Recall aus New Jersey erhielt und bis heute dortblieb, etwa 20 Minuten Eiszeit pro Spiel bekommt. Jiricek dagegen wurde in dieser Saison bereits fünfmal (!) rauf- und runterbeordert, was er auch nicht unkommentiert ließ.
Fazit: Nicht immer ist der erste Spieler, der in der NHL ankommt, auch automatisch der bessere. Beide Cracks sollten lange und erfolgreiche NHL-Karrieren vor sich haben, ob sie ihre Teams bereits in naher Zukunft in die Playoffs tragen können, wird sich weisen.
Lukas Reichel (W/C) | J-J Peterka (W) |
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Runde 1 (2020), #17 Chicago Blackhawks | Runde 1 (2020), #34 Buffalo Sabres |
94 NHL-Spiele (11-19-30) | 157 NHL-Spiele (40-42-82) |
120 AHL-Spiele (42-73-115) | 70 AHL-Spiele (28-40-68) |
Meine Einschätzung vor dem Draft: Peterka vor Reichel
Beide Forwards verbrachten ihre Folgesaison nach dem Draft noch in Deutschland bzw. bei Peterka sogar teilweise in der EBEL, waren am Ende der Saison noch bei der WM dabei. Danach rief Übersee endgültig, allerdings mit unterschiedlichen Ausgängen: Reichel spielte in der AHL bei Rockford eine bärenstarke Saison (mehr als ein Punkt pro Spiel), kam auch auf elf NHL-Einsätze. Peterka erzielte ähnliche Scorerwerte, allerdings nur zwei NHL-Spiele.
In der Anschlusssaison 22/23 reichte es für Reichel sogar zu 23 NHL-Spielen mit beachtlichen 15 Punkten, Peterka hatte die AHL schon ganz hinter sich gelassen und kam auf 77 NHL-Partien
Die Volksseele in Chicago rief zu Beginn der heurigen Saison nach Reichel als NHL-Stammspieler und er bekam diese Chance, sogar als Center: Die Erträge waren aber äußerst mager, er fiel kaum auf. Nach einem Zwischenspiel als Flügel hieß es wieder zurück in die AHL, ehe er wieder nach Chicago zurückbeordert wurde.
Peterka hingegen brauchte heuer keine Gedanken mehr an die AHL zu verschwenden, er absolvierte bisher alle 78 Sabres-Partien und kam dabei auf 50 Scorerpunkte.
Mich hat der große Abstand in ihrem Draftjahr immer verwundert, ohne etwas gegen Reichel zu haben. Peterka war immer für mich eher ein Treiber, vor allem seine "Twitchiness" (er kann sich mit kurzen Bewegungen auf engstem Raum Vorteile verschaffen) hat mich immer fasziniert. Reichel hatte natürlich den Vorteil, dass er sowohl Center als auch Flügel spielen kann, dazu kommt sein Speed und seine sanften Hände. Er war aber immer ein zarter Bursche und hat diesen Nachteil bis heute nicht ablegen können.
Fazit: Derzeit hat Peterka die Nase vorne, er verbessert sich wirklich von Saison zu Saison. Reichel geriet heuer mit den Blackhawks in einen Abwärtsstrudel, er bräuchte vielleicht wirklich einen Sommer unter steter Aufsicht eines Fitnesscoaches. Peterka hat natürlich auch den kleinen Vorteil, dass er nie den Rucksack eines Erstrunden-Picks mit sich tragen musste, obwohl das beim Draft eigentlich sein Habitat hätte sein müssen.
Noch ist es zu früh, über die jeweiligen NHL-Karrieren ein endgültiges Urteil zu fällen, aber derzeit hat Reichel seinen Anfangsvorsprung verspielt und Peterka befindet sich in einem steten Aufwärtstrend.
Jack Quinn (W) | Marco Rossi (C) |
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Runde 1 (2020), #8 Buffalo Sabres | Runde 1 (2020), #9 Minnesota Wild |
100 NHL-Spiele (22-32-54) | 98 NHL-Spiele (21-18-39) |
60 AHL-Spiele (28-42-70) | 116 AHL-Spiele (34-70-104) |
Meine Einschätzung vor dem Draft: Keine, ich habe Quinn nie spielen gesehen
Weniger bei Scouts als bei Fans sorgte Quinns Draft einen Platz vor Rossi für Aufregung – ich erinnere mich noch an einen äußerst unterhaltsamen Video-Blog eines jungen Minnesota-Fans, die nach der Entscheidung pro Quinn und gegen Rossi (beide vom gleichen Team) völlig durch den Wind war.
Rossi sackte bezüglich der Voraussagen beim Draft vielleicht ein klein wenig ab, aber Quinn blickte auf eine immens starke Saison zurück, sein Draft-Stock stieg von Monat zu Monat. Danach ging es für ihn in eine Corona-bedingte verkürzte AHL-Saison in Rochester, im Jahr darauf die ersten beiden NHL-Punkte in ebenso vielen Spielen und eine dominante Spielzeit in Rochester. Die Saison 21/22 verbrachte Quinn dann zur Gänze in der NHL und brachte es auf respektable 37 Punkte in 75 Spielen.
Zu diesem Zeitpunkt hätte es wohl einige Fans gegeben, die Quinn nie und nimmer gegen Rossi eingetauscht hätten. Dieser nämlich wurde nach 19 ereignislosen NHL-Spielen wieder nach Iowa zurückgesandt, wo er zwar stark punktete, aber sich eben auch in seiner zweiten Saison am Stück in der NHL nicht festklammern konnte.
Heuer sieht es ganz anders aus: Rossi schaute von Spieltag Eins an nie mehr zurück, absolvierte bis heute alle Wild-Partien und setzte sich trotz einiger Linienrotationen als Nr. 2-Center des Teams durch. Quinn hingegen wurde von Verletzungen gestoppt – erst riss er sich im Sommer die Achillessehne und stieg erst im Dezember in die Saison ein, verletzte sich dann im Jänner erneut. Nach genau zwei Monaten Pause ist er aber jetzt wieder mit dabei.
Fazit: Quinn und Rossi sind Beispiele dafür, wie sehr Verletzungen bzw. Krankheiten den Status von Spielern rauf- und runterheben können. Bei Rossi kann man ohne Übertreibung sagen, dass er ohne seine Corona-Probleme den heurigen Status in Minnesota zumindest schon in der Vorsaison erreicht hätte, seiner Karriere fehlt mindestens ein Jahr. Für Quinn hingegen ging es seit dem Draftjahr immer bergauf, ehe ihn Verletzungen heuer erstmals stoppten. Die Wild griffen bei Rossi auch entscheidend ein, indem sie ihm den ganzen Sommer an in puncto Trainingsaufbau betreuten. Der Lohn dafür: Seine Skating-Nachteile sind völlig verflogen, Coach John Hynes lobte sogar seine Beinarbeit ausdrücklich.
Beide Spieler sollten bei guter Gesundheit großartige NHL-Karrieren vor sich haben, Rossis Vorteile könnten seine Position als Center und sein immer schon weit entwickeltes Defensivverhalten sein. Quinn hat aber sein großes Offensivpotential in der NHL ebenfalls schon nachgewiesen.