Es ist ein leidiges Thema, das in den letzten Wochen wieder für mächtig Diskussionen im Skisprungzirkus sorgt: Das Material und konkret die Sprunganzüge.
Auslöser der aktuellen Debatte war ein Interview eines anonymen, noch aktiven Schweizer Springers im "Blick", in dem dieser behauptete, beim Skifliegen am Kulm mit einem zu großen Anzug gesprungen zu sein. Bei der Materialkontrolle im Startbereich habe er keinerlei Probleme gehabt, im Auslauf wurde er nicht kontrolliert.
Der Schweizer meinte weiter, dass er die Anzugkontrollen "derzeit nicht ernst nehmen" könne und "praktisch alle" betrügen würden.
Diese Aussagen schlugen im Weltcup hohe Wellen. Ex-Weltcupspringer Andreas Küttel goss noch Öl ins Feuer, indem er meinte, Österreichs Team habe "mit dem Beschiss angefangen" (alle Infos >>>).
Der ÖSV stellt gegenüber LAOLA1 jedoch klar, dass diese Vorwürfe auf die damalige Ära unter Alexander Pointner bezogen waren und keineswegs mit den heutigen Diskussionen zu tun haben.
Doch wie verhält sich die Sache wirklich? Wird tatsächlich in einem so großen Ausmaß betrogen, wie von den beiden Schweizern behauptet? Was ist dran an den Gerüchten um unzureichende Materialkontrollen? Und welche Lösungen kann es für die schwelende Problematik geben?
LAOLA1 hat mit Beteiligten aus allen Bereichen sowie einem unabhängigen Experten gesprochen.
Schweizer Aussagen ernten vehementen Widerspruch
Der Anzug ist grundsätzlich ein ständig schwelendes Thema im Skispringen. Die Problematik wurde bei Olympia in Peking offensichtlich. Damals wurden insgesamt fünf Disqualifikationen wegen nicht regelkonformer Anzüge ausgesprochen.
"In einer so komplexen Sportart, wo das Zusammenspiel zwischen Mensch und Material eine große Rolle spielt, versuchen speziell die Nationalmannschaften alle Teilbereiche zu optimieren", weiß Werner Schuster. Der 53-Jährige werkte zwischen 2008 und 2019 als Cheftrainer der Deutschen Männer, aktuell ist er wieder Nachwuchstrainer im Skigymnasium Stams und Experte bei den Skisprung-Übertagungen auf "Eurosport".
Gefragt nach den Vorwürfen meint Schuster: "Das ist ein sehr vielschichtiges Thema und es ist ja nicht das erste Mal, dass das in den Fokus rückt. Aber um die Frage ansatzweise zu beantworten: In der Form hat er (der Schweizer Springer, Anm.) natürlich nicht recht", stellt Schuster klar und zieht einen Vergleich: "Das wäre, wie wenn man in Österreich sagen würde: 'Ich bin jetzt auf der Autobahn 170 gefahren und nicht angehalten worden, außerdem fahren ja alle zu schnell.' Das ist zu simplifizierend."
Auch beim ÖSV kann man diese Aussagen nur schwerlich nachvollziehen, wie der Sportliche Leiter des ÖSV für Skispringen und Nordische Kombination, Mario Stecher, erklärt. "Tatsache ist: Wenn man jetzt sagt, man würde heutzutage betrügen bzw. man würde nicht regelkonforme Anzüge springen, dann muss ich dem ganz klar widersprechen. Denn dafür gibt es ja Anzugkontrolleure", so der frühere Kombinierer.
"Das wäre, wie wenn man in Österreich sagen würde: ‘Ich bin jetzt auf der Autobahn 170 gefahren und nicht angehalten worden, außerdem fahren ja alle zu schnell.’ Das ist zu simplifizierend."
Der Chefkontrolleur der FIS ist mit Christian Kathol ein Mann aus Österreich. Der sieht es ähnlich wie Stecher. "Ich kenne alle Sportler natürlich persönlich, sehr viele davon würden nicht einmal daran denken zu betrügen. Die wollen sich nach dem Sprung bei der Materialkontrolle keine Gedanken darüber machen müssen, sondern wollen sich auf ihren Sport konzentrieren", stellt er sich den Vorwürfen entgegen.
Materialkontrolle: (Nicht nur) ein Kapazitätsproblem
Tatsache ist: Das aktuelle Regulativ lässt viel Raum für Diskussionen. "Dank wenigen Zentimetern mehr Stoff kann der Athlet bis zu zehn Meter weiter springen", streicht der Schweizer Trainer Martin Künzle gegenüber dem "Blick" hervor.
Auch noch engmaschigere Kontrollen würden für mehr Sicherheit sorgen. Doch an einem Wochenende "kriege ich 80 bis 85 Prozent der Sportler zu mir in die Kabine", schildert Kathol. Pro Bewerb sind es gar nur knapp über 40 Prozent, so der Kärntner.
Eine richtige Kontrolle im Wettkampf dauere "vier, fünf, sechs Minuten". Alle Springer in einem Durchgang zu vermessen sei daher nicht möglich. "Das braucht einfach Zeit", sagt Kathol.
Das Problem liegt somit zum einen im zu großen Zeitaufwand, der dafür nötig ist.
Zum anderen liegt es, und hier sind sich alle Beteiligten bisher einig, an der Messmethode. Denn nach wie vor werden die Athleten per Hand vermessen.
Kathol bestätigte bereits, dass dies "nicht immer hundertprozentig genau" sein könne. Stecher erklärt: "Wenn man etwas mit der Hand misst, wenn man an den Stoff denkt, der natürlich dehnbar ist und wenn man genau weiß, auch der Körper verändert sich von in der Früh bis am Abend, dann sind natürlich kleinere Veränderungen definitiv einfach da."
Als Idee wurde von mehreren Seiten eine 3-D-Körpermessung ins Spiel gebracht. "Dann geht es um Millimeter und man sieht: Ist das richtig oder ist das falsch?", findet der Gedanke in Person von Mario Stecher Unterstützung.
Kathol erklärt, dass diese Technik bereits ab der kommenden Saison eingesetzt werden soll. Er arbeite hier "intensiv mit Universitäten und Firmen" zusammen. Der Körper des Athleten werde dabei mit Kameras abgebildet, so Kathol. "Da bin ich gerade bei den Details, ich will, dass die Haltung dabei überprüft wird, damit man sich nicht mehr verbiegen und keine Masse mehr am Körper verändern kann", erklärt er. Eine Entscheidung soll noch im Februar fallen.
Zumindest die Basisvermessungen im Sommer möchte er bereits mit dem neuen System durchführen, so Kathol.
3-D-Messung als Lösung? "Muss man fertig denken"
Doch Schuster sieht dies differenzierter und fordert ein Umdenken. Eine 3-D-Messmethode könne zwar im Weltcup Abhilfe schaffen, doch der "Eurosport"-Experte denkt weiter: "Man darf nicht vergessen, man muss ja die Springer heranführen. Es gibt ja unzählige Nachwuchswettkämpfe. Wer soll diese Geräte dort finanzieren? Wer soll es überwachen, wer soll es bedienen? Also das muss man schon einmal fertig denken", wirft er ein.
Schuster fordert, dass der erste Schritt "die bedingungslose Objektivierung bei der Erfassung der Körpermaße sein" müsse. "Da können elektronische Hilfsmittel natürlich helfen. Der nächste Schritt ist dann die einfache und flotte Kontrollierbarkeit eines Sprunganzuges bei Wettkämpfen. Das muss natürlich möglichst flächendeckend und effektiv funktionieren", so der Vorarlberger.
Fest steht: Regeländerungen sind notwendig, um klarere Verhältnisse zu schaffen. Diese wird es auch geben, wie Kathol bestätigt: "Die Regeln zu ändern, das kann ich zum ersten Mal im Frühjahr machen. Da habe ich auch einiges vor", so der Kärntner.
Kraft: "Gehe von Fair Play aus"
LAOLA1 hat auch mit ÖSV-Ass Manuel Fettner gesprochen. Dieser gibt sich zum Anzugthema zurückhaltend und es ist ihm anzumerken, dass auch er nicht recht weiß, wo die Grenzen liegen. Wohl auch ein Grund, warum Kathol an den Regeln schrauben will, um hier allen Beteiligten mehr Sicherheit zu geben.
Der Körper verändere sich "sogar stündlich", sagt Fettner. "Mit jedem Mittagessen oder Klogang ist der Bauch anders groß", weist er darauf hin, dass sogar menschliche Grundbedürfnisse Einfluss auf die Thematik nehmen.
Es sei auf jeden Fall "kein einfaches Themengebiet" und ebenso "nicht einfach für die Kontrolleure", sieht er auch deren Seite.
Man versuche natürlich "die Grenzen auszuloten", doch oft wisse man gar nicht, "wo die wirklich sind", gibt er einen Einblick in seine Erlebnisse als Aktiver.
Sein Teamkollege Stefan Kraft meint, er sehe die Diskussionen "eigentlich recht gelassen. Als Sportler gehe ich von Fair Play aus", so Kraft. Viel wichtiger sei für ihn, sich gar nicht so sehr mit anderen zu beschäftigen: "Ich schaue, dass ich meine sieben Sachen beieinander habe. Um die beste Performance abrufen zu können, muss ich mich auf mich konzentrieren."
Null-Toleranz als Problemlöser?
Um der Problematik zu begegnen, bringt Werner Schuster eine Lösung ins Spiel. Diese war vor über zehn Jahren bereits einmal angedacht, wie der frühere Trainer der Deutschen erklärt. "Ich habe viel über die Thematik nachgedacht und kann mich erinnern, als im Sommer 2012 die Reduktion der Anzugsfläche auf null Zentimeter beschlossen wurde", schildert er. Die Anzüge waren dadurch ganz anliegend. Es blieb allerdings bei einer Testphase.
"Ohne wissenschaftliche Daten zu haben, ging dann die Angst um, dass der Springer durch die reduzierte Anzugsfläche im Flug zu schnell wird, und dass dann Gefahrenmomente bei der Landung entstehen könnten", erläutert Schuster.
Diese Annahme sei seines Erachtens aber nie bewiesen worden. "Aber man hängt sich jetzt schon jahrelang daran auf und lässt einfach auch mehr Fläche zu", kritisiert er.
"Die aerodynamische Komponente, die Flugeffektivität hat einfach in den letzten Jahren extrem zugenommen. Die athletische Komponente ist in den Hintergrund gerückt", so Schuster. "Im Moment ist mir das Material zu sehr und der Mensch zu wenig im Fokus. Man muss wieder den Sportler, seine Fähigkeiten und seine Athletik in den Vordergrund rücken", fordert der 53-Jährige.
Fettner unterstreicht: "Es ist wahrscheinlich ähnlich wie in der Formel 1. Wenn ich in einem schlechten Auto sitze, habe ich trotzdem keine Chance", so der 37-Jährige.
Der aber auch klarlegt, dass "schlussendlich immer noch der Sprung sowie der Athlet das wichtigste sind. Nichts fliegt von alleine."
Schuster sieht in den Null-Toleranz-Anzügen einen möglichen Ausweg aus dem Dilemma. "Ich habe die damalige Testphase sehr positiv in Erinnerung. Das würde auch die Kontrollen erleichtern und wäre ein Vorschlag, den man meines Erachtens unbedingt diskutieren sollte", sagt er.
Bisher sei es "immer ein bisschen ein Ausprobieren, was geht", wie Fettner erklärt. Mit einer derartigen Lösung könnte man diese Unsicherheiten reduzieren oder gar beseitigen.
Größere Anzüge in Durchgang zwei?
Auch müsste man sich dann wohl nicht länger mit Vorwürfen, wie den eingangs erwähnten von Andreas Küttel auseinandersetzen.
Ein Aha-Erlebnis habe Küttel nämlich 2005 in Lillehammer gehabt. Damals sei ÖSV-Chefcoach Alexander Poitntner beim Frühstück auf ihn zugekommen und habe gefragt, ob er in beiden Durchgängen mit dem selben Anzug gesprungen sei. Küttel sagt, er habe dann verdutzt entgegnet, nur einen Anzug zu haben.
Ob tatsächlich der ÖSV mit derlei Schummeleien begonnen hat, lässt sich nicht belegen. Dass ein Anzugtausch zwischen den Durchgängen damals zumindest nicht unüblich gewesen sein dürfte, unterstreicht eine Aussage von Kathol, der sagte, man habe in Sapporo erstmals ausprobiert, die Kontrolle "von unten auf den Start raufzuverlegen. Da habe ich bei mindestens einem Durchgang pro Wettbewerb alle Athleten angeschaut und mit sogenannten ‘Quick Checks’ kontrolliert".
Weil, und hier kommt der Küttel-Vorwurf ins Spiel, früher sei es "speziell im zweiten Durchgang so üblich" gewesen, dass "man riskiert hat einen größeren Anzug zu nehmen, um weiter zu springen."
Schweizer bleiben Grenzgänger "solange es durchgeht"
Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass wohl niemand exakt sagen kann, wo tatsächlich die Grenze liegt. Vielmehr verläuft diese fließend, da sie in ihrer aktuellen Form zahlreichen Variablen unterliegt, die aber nur bedingt kontrollier- bzw. steuerbar sind.
Fest steht aber auch, dass an der Thematik intensiv gearbeitet wird, denn schließlich ist es im Interesse aller Beteiligten, den Sport seriös und vor allem sicher zu präsentieren.
"Wir müssen ans Limit gehen und darüber hinaus, solange es durchgeht.”
Zudem dürfte es zumindest einige, wenige "schwarze Schafe" geben, die bewusst versuchen, das Regulativ nicht nur zu dehnen, sondern auch über die Grenze zu gehen, wie Schweiz-Coach Künzle offen zugibt. "Wir müssen ans Limit gehen und darüber hinaus, solange es durchgeht."
Dieses Phänomen trifft aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht nur auf die Schweizer zu. Sie sind bisher lediglich die einzigen, die darüber sprechen.
Ein Gesprächsthema werde das Material auch "in den nächsten Jahren bleiben und nicht weniger werden", vermutet Fettner.
Ob die Causa bei der WM aber erneut zu so großen Diskussionen führen wird? "Nein, eigentlich nicht", glaubt Stefan Kraft. Im Sinne des Sports bleibt zu hoffen, dass er recht hat.