Unzählige Male standen Marcel Hirscher und Henrik Kristoffersen nebeneinander auf dem Podest. Meistens blickte der Norweger von etwas weiter unten auf den achtfachen Gesamtweltcup-Sieger auf dem obersten Treppchen empor.
Aus den ehemals verbissenen Konkurrenten sind mit dem Wechsel von Kristoffersen zu Hirschers Ski-Marke "Van Deer" Verbündete geworden.
"Kann das gut gehen?", fragen sich wohl viele. Kann es, zweifelsohne. Hirscher und Kristoffersen gehören bzw. gehörten zu den Besten ihres Metiers, das Projekt hat enormes Potenzial zur absoluten Erfolgsgeschichte zu werden. Jedoch ist diese Zusammenarbeit auch mit Risiko verbunden – sowohl für Hirscher als auch für Kristoffersen.
Kristoffersen und sein "Lieblingsgegner"
Kristoffersen bezeichnete Hirscher gerne als seinen "Lieblingsgegner", an dem er oft verzweifelte, an dem er aber auch gewachsen ist.
Hirscher spornte den Norweger mit seiner Akribie – vor allem im Material-Bereich - und seinen Erfolgen an. Jahrelang lieferten sich die beiden packende Duelle auf höchstem Niveau.
Mit dem Rücktritt des unumstrittenen Dominators im Jahr 2019 fiel Kristoffersen leistungsmäßig in ein Loch. In der Saison 2020/21 fuhr er mit Rang sechs im Gesamtweltcup sein schlechtestes Ergebnis seit sechs Jahren ein. Immer wieder machte der Norweger, der wie einst Hirscher ein Privat-Team rund um seinen Vater um sich hat, Material- und Abstimmungsprobleme dafür verantwortlich.
Vor der abgelaufenen Saison wechselte Kristoffersen dann die Bindung und Bindungsplatte, weg von seinem eigentlichen Ausrüster "Rossignol" hin zu "Marker" – so wie es vor einigen Jahren auch Hirscher getan hat. In beiden Fällen mit Erfolg, Kristoffersen kürte sich im vergangenen Winter zum Slalom-Weltcup-Sieger und auch im Riesentorlauf fand er den Anschluss an die absolute Weltspitze wieder.
Doch der 27-Jährige will mehr und Hirscher soll ihm dabei helfen. Deshalb wagte er nach 18 Jahren bei "Rossignol" den Wechsel zu "Van Deer".
Hirscher: "Unglaublich, dass so etwas zu so einem frühen Zeitpunkt möglich ist"
Erst im September 2021 startete Hirscher mit seiner eigenen Ski-Marke offiziell durch. Der Olympiasieger höchstpersönlich steht regelmäßig am Berg, um seine Brettl’n zu testen und weiterzuentwickeln.
"Mit so einem Top-Athleten zusammenarbeiten zu dürfen, ist wirklich ein Privileg."
Auf den unterschiedlichen Strecken und Pistenbeschaffenheiten im Weltcup waren sie allerdings noch nie im Einsatz, Kristoffersen sowie die anderen beiden "Neuverpflichtungen" Timon Haugan und Charlie Raposo fungieren im kommenden Winter – in dem unter anderem eine WM ansteht – also in gewisser Weise als Testpiloten.
Kristoffersen scheinen die Hirscher-Ski nach einigen Test-Wochen jedoch so überzeugt zu haben, dass er sich für den Wechsel entschied.
"Henrik war einer meiner stärksten Konkurrenten in meiner aktiven Zeit. Mit so einem Top-Athleten zusammenarbeiten zu dürfen, ist wirklich ein Privileg. Unglaublich, dass so etwas zu so einem frühen Zeitpunkt unseres Projektes bereits möglich ist", weiß selbst Hirscher.
Mega-Know-How bei "Van Deer"
Ob die Hirscher-Latten konkurrenzfähig sind und Kristoffersen damit über eine ganze Saison zurechtkommt, wird sich erst weisen. Fest steht jedoch: So viel Know How im Material-Sektor wie bei "Van Deer" gibt es kaum wo.
Neben Hirscher selbst gehört auch Vater Ferdinand, einer der größten Experten und Tüftler in diesem Bereich, zum Team. Mit Ex-ÖSV-Sportdirektor Toni Giger und Edi Unterberger, dem ehemaligen "Service-Chef" der ÖSV-Alpinen, konnten zwei namhafte Personalien für das Projekt gewonnen werden. Außerdem warb Hirscher mit Raphael Hudler und Bernhard Arnitz die Serviceleute von Katharina Liensberger und Nici Schmidhofer ab.
"Wenn Perfektion zur Besessenheit wird, entstehen magische Dinge", schreibt Kristoffersen bei der Verkündung seines Wechsels.
"Es ist eine großartige Gelegenheit, die Dinge auf eine neue Ebene zu heben. Letztendlich ist die Ausrüstung das Wichtigste, um schnell zu fahren und Rennen zu gewinnen", macht der Norweger keinen Hehl um seine Erwartungen an die Hirscher-Ski .
Hirscher geht "All in"
Hohe Erwartungen hat freilich auch Hirscher selbst. Wenn der Annaberger etwas anpackt, dann richtig. Der Name Hirscher steht für Erfolg.
Schon bei der ersten Präsentation seines "Van Deer"-Projekts stellte er klar: Diese Skier sollen Weltcup-Rennen gewinnen.
Nach dem Briten Charlie Raposo und dem Norweger Timon Haugan ist Kristoffersen nun das absolute Aushängeschild des Teams. Sowohl der Weltmeister und zweifache Olympiamedaillen-Gewinner als auch Hirscher werden die Zusammenarbeit mit dem Ziel besiegelt haben, im kommenden Winter Rennen zu gewinnen.
Anstatt sich mit zwei ambitionierten, aufstrebenden Läufern im ersten Jahr im Weltcup erst einmal heranzutasten geht Hirscher mit der Verpflichtung von Kristoffersen gleich "All in" – so wie er es als aktiver Läufer am Weg zu seinen unzähligen Erfolgen oft getan hat.
Sollte sich der erhoffte Erfolg nicht einstellen, wäre das für beide Seiten ein herber Rückschlag.
Mit Kristoffersen kann's ungemütlich werden
Wer den Ski-Weltcup regelmäßig verfolgt weiß, dass ein unzufriedener Kristoffersen nicht der angenehmste Zeitgenosse ist. Der 27-Jährige ist für seine aufbrausende Art bekannt. Da fliegen nach einem verpatzten Lauf schon mal Skistöcke oder weniger jugendfreie Wörter durch die Gegend.
Darauf sollte Hirscher aber eingestellt sein, schließlich war er oft genug der Grund für Kristoffersens Ausbrüche und kennt diese zur Genüge.
"Henrik ist ein akribischer Arbeiter und wahrscheinlich der beste Sportler in den technischen Disziplinen. Wir sind stolz darauf, dass er sein Vertrauen in uns setzt – wir werden alles dafür tun, diesen Ansprüchen gerecht zu werden", erklärt Hirscher.
Für den Gewinner von 67 Weltcup-Rennen ist die Verpflichtung von Kristoffersen eine "Traumgeschichte".
Kristoffersen: "Es ist an der Zeit, gemeinsam zu gewinnen"
Das erste Kapitel dieser Traumgeschichte ist geschrieben, viele weitere sollen noch folgen. Kristoffersens großes Ziel ist der Gesamtweltcup. Zwei Mal musste er sich als Zweiter hinter Hirscher geschlagen geben.
Vielleicht führen ihn nun ausgerechnet die Skier von Hirscher – seinem jahrelangen Konkurrenten – zum Happy End.
"Meine Beziehung zu Marcel ist wirklich besonders - es ist eine Freundschaft, die als faire Rivalität begann. Wir haben gegeneinander gekämpft - immer, wenn ich Zweiter wurde, wurde Marcel Erster und andersherum", sagt Kristoffersen. "Und jetzt ist es an der Zeit, gemeinsam zu gewinnen."