"Da kommen viele Gedanken. Aber das erste ist natürlich, dass du unten stehst, 60.000 Leute schreien dir zu, du bekommst die Goldmedaille überreicht und die Bundeshymne wird gespielt", sagt Andreas Goldberger, gefragt danach, was ihm den als erstes in den Sinn komme, wenn er an den 11. Februar 1996 denkt.
Mittlerweile 28 Jahre ist es nun her, dass er sich am Kulm zum Skiflug-Weltmeister krönte. Wenn "Goldi" davon erzählt, wirkt es aber ganz so, als wäre es gerade gestern passiert.
Der damals 23-Jährige war zu dieser Zeit auf dem Höhepunkt seines sportlichen Schaffens angekommen. Zehn Jahre, nachdem er selbst noch unten in der Menge gestanden und seinen Helden zugejubelt hatte.
"Ich war 1986 als Bub schon dort zuschauen, als Andreas Felder vor Franz Neuländtner gewonnen hat, da denkst du dir dann schon: 'Das wäre was!' Als Nachwuchsskispringer hatte ich zwei Ziele: Einmal am Bergisel und am Kulm dabei zu sein."
Nun - dies ist ihm jedenfalls vorzüglich gelungen.
Ein Nerven-Duell mit "Iceman" Ahonen
Goldberger zwang seinen damals schärfsten Konkurrenten Janne Ahonen in die Knie, ging dabei volles Risiko.
Nach dem ersten Tag lag der finnische "Iceman", bekannt für seine Coolness und Abgezocktheit, knapp vorne. "Auch am zweiten Tag hat er starke Sprünge gezeigt und dann bekommst du mit, dass er wieder vorne ist", gibt Goldberger Einblick in seine Gedanken vor dem entscheidenden Sprung.
Der heute 51-Jährige war damals schon als "Silberberger" verschrien, weil es in den Jahren zuvor sowohl bei der Skiflug-WM auf der heute verwaisten Schanze in Harrachov (1992), als auch bei den nordischen Titelkämpfen in Falun (1993) und Thunder Bay (1995) "nur" zu Silber reichte.
Zurück ins Geschehen: Goldberger sitzt als oben auf dem Balken, unten wartet eine schiere Unzahl an frenetischen Fans auf nichts weniger, als dass der Skisprung-Superstar für Ekstase unter ihnen sorgt.
"Wenn du vor dem Finaldurchgang oben stehst, eine solche Stimmung herrscht und die Leute schreien, dann ist das schon eine große Herausforderung, ein echter Nervenkitzel", beschreibt "Goldi" und erklärt aber auch, es sei "gleichzeitig eine totale Freude, dass du das tun darfst."
"Ja, hundertprozentig. Da bist du voll drinnen, da gibts nichts anderes als das."
Und diese Freude nutzt der "Liebling der Nation" ebenso wie die Motivation, die er aus den zuvor verpassten Goldmedaillen zog. "Ich war schon so oft Zweiter, es hat mich schon so genervt", schildert Goldberger.
Für ihn habe es damals nur zwei Möglichkeiten gegeben: Pokal oder Spital. Ein Satz beherrschte seine Gedanken: "Ich werde sicher nicht mehr Zweiter." Goldberger landete bei 198 Metern und distanzierte Ahonen am Ende um 3,9 Punkte.
Alles für die Goldmedaille - sogar das eigene Wohlergehen
Es wurde also glücklicherweise der Pokal und "Goldi" seinem Nachnamen - wenn man so will - endlich gerecht.
Mit dem Motto "Pokal oder Spital" meinte er es zudem bitterernst. Gefragt, ob er denn bei diesem Sprung tatsächlich seine Gesundheit aufs Spiel gesetzt hätte, sagt er unumwunden: "Ja, hundertprozentig." Er sei damals jung gewesen, "da bist du voll drinnen, da gibts nichts anderes als das", unterstreicht er.
"Heute bin ich 51 Jahre, habe zwei Kinder und eine Familie, da sehe ich das natürlich anders. Ich muss ja nicht mehr, ich habe ja schon gewonnen. Aber damals, in dieser Situation, da tust du alles, um die Medaille zu bekommen", verdeutlicht Goldberger.
Freilich: Wer von einer Skiflugschanze springt, setzt alleine dadurch schon seine Gesundheit aufs Spiel. Goldberger hätte die Umstände aber bis aufs Äußerste und darüber hinaus ausgereizt. Dabei hatte er bereits eine unangenehme Erfahrung mit der Schanze in Bad Mitterndorf gemacht.
"Ich kann mich erinnern, dass ich einmal am Kulm auf 209 Meter hinunter gesegelt bin und beim Aufsprung bin ich dann gestürzt, weil Tiefschnee war. Ich glaube, das wäre seinerzeit sogar Schanzenrekord gewesen", denkt der Ex-Weltmeister zurück.
Seine Risikobereitschaft war etwas, das ihn stets auszeichnete, wenngleich er zugibt, manchmal erst einen Moment zu spät nachgedacht zu haben - wie in dieser Situation. "Zuerst habe ich mir gedacht: 'Wie komme ich so weit?' Erst in der Luft habe ich dann den Tiefschnee gesehen", erinnert er sich. Dann sei ihm bewusst geworden: "Okay, jetzt kommt das größte Problem. Bumm - und ich bin schon gelegen", kann er heute darüber schmunzeln.
"Ich habe da ja eigentlich nicht hingehört"
Der Hype um ihn war dank seines Weltmeistertitels am Kulm also perfekt, Goldberger war der Sport-Superstar Österreichs. Doch wie erklärt er sich heute, mit fast 30 Jahren Abstand, den überbordenden Rummel um seine Person?
Goldberger zieht einen Vergleich: Sowas sei einmalig. "Bei Hermann Maier war es ja ähnlich. Was er da 1998 aufgeführt hat (bei Olympia in Nagano, Anm.), ist ja für einen normalen Menschen unbegreiflich", spielt er auf den verheerenden Sturz des "Herminators" und das folgende Doppel-Gold an.
Der Hauptgrund sei aber ein anderer. Seine Biographie spiele eine große Rolle. "Ich bin auf einem Bauernhof im Innviertel aufgewachsen, ich habe da ja eigentlich nicht hingehört", schildert der Mann aus dem 2.000-Seelen-Ort Waldzell und wirft eine Frage auf, die sich damals wohl viele gestellt haben: "Was macht ein Innviertler auf einmal im Skispringen?"
Dazu kommen seine Nahbarkeit und Authentizität, die auch im Gespräch mit ihm spürbar zum Vorschein kommen. "Ich war halt ganz normal, einer aus dem Volk heraus", sagt Goldberger über sich selbst.
Sein - sehr glaubwürdiges - Motto: "Egal, ob du gut oder schlecht bist, du solltest dich menschlich nie verändern."
Ein weiterer Grund war freilich die sportliche Lage im Skispringen zu jener Zeit. "Bis 1992 haben unsere Springer quasi alles gewonnen, dann war eine kleine Flaute und plötzlich war ich da und gewinne wieder alles", meint Goldberger.
Viele hätten ihn anfangs ob seiner Herkunft belächelt. "Im Nachhinein war es eigentlich ein Segen. Weil ich der beste Österreichs und der beste der ganzen Welt war. Und dann war ich wieder 'der Österreicher'." Die Frage, ob ein Salzburger, Tiroler oder Kärntner besser ist, stellte sich nicht länger."
Stattdessen war da ein Oberösterreicher und zu dem helfen wir alle. So hat es sich für mich angefühlt", schildert Goldberger und resümiert treffend: "Es hat wahrscheinlich alles zusammengepasst."
Als Kasai & Co. die Angst in den Augen hatten
Der heutige ORF-Experte erlebte am Kulm aber nicht nur Wunderschönes, sondern auch Witzig-Kurioses. "Ganz früher gab es ja den Lift noch nicht. Da wurden wir mit den Puch G und Pinzgauern nach oben gebracht", erinnert sich Goldberger. Das war für den Innviertler Bauernbub freilich nichts Aufregendes - für so manchen Konkurrenten aber schon.
"Auf der Straße geht es dann ganz am Schluss ziemlich steil nach oben. Die haben da beim Hinauffahren mehr Angst gehabt als beim Runterspringen."
"Normal habe ich mit Leuten wie Kasai, Funaki oder Harda immer geplaudert", denkt er zurück. Die japanischen "Super-Adler" der 90er-Jahre seien aber in diesem Fall mucksmäuschenstill gewesen. "Auf der Straße geht es dann ganz am Schluss ziemlich steil nach oben", so "Goldi" weiter.
Das trieb den sonst so coolen Asiaten die Schweißperlen auf die Stirn. "Die haben da beim Hinauffahren mehr Angst gehabt als beim Runterspringen", muss Goldberger auch heute noch lachen.
Ein unverhofftes "Meet & Greet" mit Heinrich Harrer
Sein wohl besonderstes Erlebnis auf der steirischen Kult-Schanze widerfuhr Goldberger abseits des Sportlichen. "Einmal bin ich ganz schlecht gesprungen und habe mich nicht für den zweiten Durchgang qualifiziert", denkt er zurück. Für viele wäre der Tag damit bereits gelaufen gewesen. Eigentlich auch für Goldberger, doch "Mr. Kulm" Hubert Neuper hatte eine andere Idee.
Dieser habe ihm vorgeschlagen, den zweiten Durchgang von der VIP-Tribüne aus zu verfolgen. "Ich hatte eigentlich keine Lust, aber bin dann doch hingegangen. Und dann durfte ich neben Heinrich Harrer sitzen!", erzählt Goldberger von einem unerwarteten Treffen mit der heimischen Alpin- und TV-Legende.
"Wäre ich Fünfter oder Zehnter geworden, wäre das nicht passiert. So durfte ich neben Heinrich Harrer sitzen und mit ihm plaudern. Das ist mir nur passiert, weil ich so schlecht war", erklärt der 51-Jährige lachend.
Harrer habe ihm dann sogar zwei seiner Bücher geschickt, darunter der mit Brad Pitt verfilmte Bestseller "Sieben Jahre in Tibet".
Dabei sei der 2006 verstorbene Harrer sehr interessiert an ihm und seiner Sportart gewesen. "Er hat mich unter anderem gefragt, wie oft ich mir schon wehgetan habe. Dann habe ich ihm ein bisschen was erzählt. Er hat dann gemeint: 'Da gehts dir eh noch gut.' Er hat mir dann seine Krankenakte geschildert. Ich glaube, er hat mir damals etwas von über 30 Knochenbrüchen erzählt, die er sich auf seinen Expeditionen zugezogen hat", erinnert sich Goldberger an das Gespräch.
Was "Goldi" den ÖSV-Adlern zutraut
Am Donnerstag beginnt der Trubel am Kulm wieder von Neuem, die ÖSV-Adler zählen, anders als bei der letzten WM am Kulm 2016, diesmal zum klaren Favoritenkreis. Wie sieht Goldberger die Chancen?
"Extrem gut. Unser Paradeflieger ist wie bereits damals Stefan Kraft. Er zählt zu den absoluten Top-Favoriten. Ihm liegen ja auch kalte Bedingungen. Das hat man zu Saisonbeginn gesehen, da war er unschlagbar", erklärt er.
Zudem reist Kraft als Sieger des letzten Springens vor der WM an, gewann am Sonntag in Zakopane. Auch Jan Hörl und Michael Hayböck traut Goldberger einiges zu.
"Das ist genau das, wovon du als Kind träumst: Wenn du mit diesem Sport beginnst, wünschst du dir, dass sie auch einmal für dich die Hymne spielen."
Die schärfste Konkurrenz sieht der ORF-Experte aus dem Nachbarland kommen. Slowenien zähle mit Lanisek, Kos und Zajc vor allem im Teambewerb zu den Top-Favoriten. "Außerdem haben sie zweimal Prevc. Von diesen fünf kann jeder um eine Medaille mitfliegen", so "Goldi".
Das Favoriten-Feld ist breit - das sieht auch er so: "Von den Deutschen schätze ich nur Wellinger stark ein. Norwegen ist eher die große Unbekannte. Granerud ist heuer weit weg von seiner Vorjahres-Form, da sehe ich eher Forfang als Kandidat. Aus Japan muss man natürlich Kobayashi auf der Rechnung haben", fasst es Goldberger zusammen.
Kann Stefan Kraft sein volles Potenzial abrufen, winkt ihm eine ähnliche Szenerie wie dem 96er-Weltmeister vor 28 Jahren. "Das ist genau das, wovon du als Kind träumst: Wenn du mit diesem Sport beginnst, wünschst du dir, dass sie auch einmal für dich die Hymne spielen. Wenn das dann noch bei der Heim-WM in der Königsdisziplin passiert, ist das einfach ein Wahnsinn", schildert Goldberger. Der mit einer Kraft-Goldenen seinen Lauf nehmen würde.