Die Debatte rund um einen vorsätzlichen Betrug im Skisprung-Weltcup schlägt weiter hohe Wellen.
Nach den Bewerben am Kulm wandte sich ein Athlet im Schweizer "Blick" anonym an die Öffentlichkeit und offenbarte, dass er beim Skifliegen in Bad Mitterndorf mit einem zu großen Anzug problemlos durch die Materialkontrolle kam (Alle Infos >>>) und bei weitem kein Einzelfall sei. "Es betrügen praktisch alle", hieß es.
Am Wochenende wehrte sich Mario Stecher, Sportlicher Leiter des ÖSV in der Sparte Skisprung und Nordische Kombination, bei LAOLA1 gegen Vorwürfe aus der Schweiz, wonach Österreich "mit dem Material-Beschiss" begonnen habe (HIER nachlesen >>>). Kurz darauf sei die internationale Konkurrenz nachgezogen, meinte Ex-Springer Andreas Küttel.
Vor den Springen in Lake Placid meldet sich FIS-Materialkontrolleur Christian Kathol im Gespräch mit LAOLA1 ebenfalls zu Wort und bestreitet die erhobenen Vorwürfe vehement.
Werden Regelverstöße erkannt, gibt es klare Konsequenzen
Der Kärntner sieht es "definitiv nicht so", dass praktisch der gesamte Skisprung-Zirkus schummeln würde.
"Ich kenne alle Sportler natürlich persönlich, sehr viele davon würden nicht einmal daran denken zu betrügen", betont Kathol. Schließlich würden sich die Athleten nach dem Sprung keine Gedanken darüber machen müssen, ob sie die Materialkontrolle bestehen würden.
"Die wollen sich auf ihren Sport konzentrieren und nicht davon ablenken lassen, ob sie dann kontrolliert werden oder nicht", so Kathol, der die Stelle im Sommer des vergangenen Jahres angetreten hat. Natürlich würde es Sportler geben, "die an die Grenze oder darüber hinaus gehen. Das ist so", stellt er fest.
"Wenn er dabei gesehen oder vermessen wird, ist die Konsequenz auch eine ganz klare", konstatiert der Materialchef. Er sehe es aber bei weitem nicht so, wie es der Athlet beschrieben hatte. Kathol schüttelt den Kopf: "Lassen wir die Kirche im Dorf."
"Heißt nicht, dass das System hat"
Der Materialkontrolleur gibt aber auch zu, dass Springer, die absichtlich mit zu großen Anzügen starten, mit ihrem Betrug durchkommen können. "Nachdem ich ungefähr 40 bis 45 Prozent in einem Springen kontrollieren kann, kann es passieren, dass es so ist", sagt Kathol. "Aber das heißt für mich nicht, dass das System hat."
An einem Weltcup-Wochenende passieren 80 bis 85 Prozent aller Springer die Materialkontrolle im Zielraum. Natürlich würden sich Kathol, aber auch die Athleten und Nationen wünschen, dass jeder Springer lückenlos kontrolliert wird. Doch mit den aktuellen Methoden ist dies nicht möglich.
Derzeit werden die Messungen von Hand gemacht, eine sorgfältige Kontrolle dauert vier bis sechs Minuten, erklärt Kathol. Auf 50 Athleten hochgerechnet - so viele dürfen im ersten Durchgang eines Weltcup-Bewerbs an den Start gehen - bedeutet dies einen Zeitaufwand von 250 Minuten, umgerechnet also über vier Stunden.
Und selbst wenn jeder Athlet im zweiten Durchgang bis aufs kleinste Detail vermessen werden würde, würde das Ergebnis erst nach gut drei Stunden feststehen. Deshalb soll es ab der kommenden Saison 3D-Vermessungen geben, welche den Zeitaufwand deutlich verringern und bei denen Regelüberschreitungen der Athleten sofort erkannt werden.
Unruhe, aber kein Chaos im Skisprung-Lager
Bis es allerdings soweit ist, dauert es noch einige Monate. Das Reglement, welches jährlich im April bzw. Mai festgelegt wird, gibt heuer keine größere Änderung mehr her. Daher heißt es für Kathol und sein Team, so viele Athlet:innen und so genau wie möglich zu kontrollieren.
Besonders mit Hinblick auf die WM, um ein ähnliches Chaos wie bei den Olympischen Winterspielen in Peking zu vermeiden. Dort wurden im Mixed-Teambewerb zahlreiche Athletinnen disqualifiziert, keimte die Materialdebatte auch im Frauen-Lager erstmals richtig auf. Bei den Männern ist sie fast schon täglicher Wegbegleiter.
Aktuell existiert im Skisprung-Weltcup aber kein Chaos, hält Kathol fest. "Wir sind weit weg von einem Chaos, bis zu diesem Artikel hat es kein Chaos gegeben - und ich gehe auch davon aus, dass wir nächste Woche (bei der WM, Anm.) kein Chaos haben werden."
Doch kurz vor großen Ereignissen, wie die Vierschanzentournee oder eben eine Weltmeisterschaft, bringen Nationen neue Innovationen hervor.
"Meine Aufgabe ist es dann, diese Änderungen von Wochenende zu Wochenende anzuschauen. Mir die Leute reinzuholen, zu schauen, was ist verändert worden, was ist passiert. Und gegebenenfalls zu limitieren. Das ist eine Aufgabe, die ständig beobachtet werden muss", so Kathol.
Kathols großer Wunsch
Im Skisprung-Lager herrscht derzeit trotzdem großes Kopfschütteln ob der getätigten Aussagen.
"Ganz ehrlich: Wer stellt sich hin und sagt, ich habe letzte Woche betrogen und bin irregulär gesprungen? Was ist der Sinn dahinter?", kann Kathol die Beweggründe nicht verstehen und stellt sich "der Aussage, dass alle Sportler über der Grenze wären, ganz vehement gegenüber."
Sein größter Wunsch ist, dass die Debatte bald wieder ein Ende findet.
Kathol: "Skispringen ist ein sensationeller Sport, der so an den Grenzen ist und die Leute fasziniert. Die Athleten bringen an jedem Wochenende tolle Leistungen. Ich finde es schade, dass wir da eine Materialdebatte haben, die so eigentlich nicht existiert und die Athleten dadurch nicht im Mittelpunkt stehen."